Pandemie und Psyche: Mehr Antidepressiva für Mädchen
- Neuer Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit analysiert Versorgungsdaten der Jahre 2018 bis 2021
- Mehr Behandlungen von Depressionen, Essstörungen, Angststörungen und Adipositas in einzelnen Altersgruppen
- Insgesamt gingen Arztbesuche, Krankenhausbehandlungen und Arzneimittelverschreibungen in 2021 weiter zurück
- Vorstandschef Storm und Medizinexperten sehen dramatische Entwicklung und fordern Konsequenzen
In der Corona-Pandemie zeigen sich weiter massive Gesundheitsfolgen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Nach einer neuen Analyse der DAK-Gesundheit für die Jahre 2018 bis 2021 gingen Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte und Arzneimittelverschreibungen in 2021 insgesamt zurück. Dagegen stiegen einzelne Diagnosen wie Depressionen, Essstörungen, Angststörungen und Adipositas teilweise dramatisch an. Besonders auffällig: Jugendliche Mädchen mit psychischen Erkrankungen wurden verstärkt mit Medikamenten behandelt. Bei Neuerkrankungen stieg die Verordnung von Antidepressiva um 65 Prozent. Die medikamentöse Behandlung von Essstörungen nahm um 75 Prozent zu. Das zeigt der aktuelle Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit. Für die repräsentative Analyse wurden ambulante und stationäre Behandlungsdaten von 782.000 Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich untersucht und mit der Situation vor der Pandemie verglichen. DAK-Chef Andreas Storm und Medizinexperten warnen bei den psychischen Problemen vor Langzeitfolgen und fordern politische Konsequenzen. Die DAK-Gesundheit startet ein neues Präventionsprojekt an Kitas und Schulen, das gezielt Bewegung fördern und die Psyche stärken soll.
„Die neuen Daten zeigen bei Depressionen, Ängsten und Essstörungen eine dramatische Entwicklung“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Wir dürfen die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern mit den Problemen nicht allein lassen. In einer konzertierten Aktion müssen Politik und Experten aus allem beteiligten Bereichen die Folgen der Pandemie kurzfristig bewerten und Sofortprogramme und Hilfsangebote starten. Wichtig sind offene Schulen im nächsten Corona-Winter. Und auch die Aufrechterhaltung von halt gebenden Alltagsstrukturen, wie beispielsweise Sportvereinen und Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Kinder brauchen einen sicheren Raum, um sich selbstbestimmt und gesund zu entwickeln.“
Für den Kinder- und Jugendreport untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Vandage und der Universität Bielefeld Abrechnungsdaten von rund 782.000 Kindern und Jugendlichen bis 17 Jahren, die bei der DAK-Gesundheit versichert sind. Analysiert wurden die Jahre 2018 bis 2021. Beispielsweise flossen 2021 3,3 Millionen Arztbesuche, 3,3 Millionen Arzneimittelverschreibungen und 88.000 Krankenhausaufenthalte in die Analyse ein. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte bestätigt die Kernergebnisse. „Insgesamt zeichnet der aktuelle Kinder- und Jugendreport ein Bild, das wir aus unserem Praxisalltag kennen“, sagt Präsident Dr. Thomas Fischbach. „Die Corona-Pandemie, die sich inzwischen im dritten Jahr befindet, hat insbesondere bei Kindern und Jugendlichen tiefe Spuren hinterlassen. Die Bewegungs- und Entwicklungsfreiheit der Mädchen und Jungen in unserem Land darf nicht weiter eingeschränkt werden.“
Im zweiten Corona-Jahr kamen insgesamt weniger Kinder und Jugendliche in deutsche Arztpraxen und Krankenhäuser als vor der Pandemie. So gingen 2021 Arztbesuche um vier Prozent und Krankenhausaufenthalte um 18 Prozent im Vergleich zu 2019 zurück. Besonders große Rückgänge bei Arztbesuchen oder Krankenhausaufenthalten gab es bei Infektionskrankheiten (-36 %) und Atemwegserkrankungen (-22 %). 2021 bekamen auch zwölf Prozent weniger Kinder- und Jugendliche Arzneimittel als in der Vor-Corona-Zeit verschrieben. Die Zahl der verordneten Antibiotika sank 2021 im Vergleich um 43 Prozent. Besonderheiten gab es bei psychischen und Verhaltensstörungen: Insgesamt gingen die Behandlungszahlen um fünf Prozent zurück. Gleichzeitig stiegen einzelne psychische Erkrankungen in bestimmten Altersgruppen deutlich an. So wurden 54 Prozent mehr Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren aufgrund von Essstörungen behandelt. Bei Angststörungen gab es bei jugendlichen Mädchen ein Plus von 24 Prozent. In der Gruppe der 10- bis 14-jährigen Mädchen stieg die Depressions-Neuerkrankungsrate um 23 Prozent.
Mädchen und Jungen litten unterschiedlich in der Pandemie. Das zeigt das Beispiel Depressionen: So stiegen 2021 die Behandlungszahlen von 15- bis 17-jährigen Mädchen um 18 Prozent im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit. Bei den 10- bis 14-Jährigen waren es sogar 23 Prozent. Bei Jungen hingegen sank die Depressions-Neuerkrankungsrate bei Schulkindern (10-14 Jahre) um 17 Prozent und bei Jugendlichen (15-17 Jahre) um 15 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Essstörungen und Angststörungen: Während bei jugendlichen Mädchen die Behandlungszahlen deutlich zunahmen, sanken sie bei Jungen.
Die an einer Depression neu erkrankten Teenager-Mädchen bekamen deutlich häufiger Medikamente. So stieg der Anteil der 15- bis 17-jährigen Mädchen mit einer Antidepressiva-Behandlung 2021 um 65 Prozent im Vergleich zu 2019. Fast jedes sechste 15- bis 17-jährige Mädchen, das 2021 neu an Depressionen erkrankte, bekam Medikamente verschrieben (14,4 %). Auch im Falle der medikamentösen Behandlung von Essstörungen (+75 %) und Angststörungen (+19 %) gingen die Zahlen 2021 im Vergleich zu 2019 bei jugendlichen Mädchen stark nach oben. „Der explosionsartige Anstieg bei der Verschreibung von Antidepressiva ist sehr bedenklich“, sagt Dr. Thomas Fischbach. „Hier müssen wir genau hinschauen. Fest steht, dass die Versorgungsstrukturen für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche verbessert werden müssen. Die Versorgung war bereits vor der Corona-Pandemie nicht zufriedenstellend. Das Problem hat sich jetzt verschärft.“ Auch Prof. Dr. med. Christoph U. Correll, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité warnt: „Die Ergebnisse einer erhöhten psychischen Belastung und Zunahme diagnostizierter spezifischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind besorgniserregend. Dies ist auch zusätzlich im Zusammenhang mit einer zu erwartenden Dunkelziffer psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher, die durch das zurückgegangene Inanspruchnahmeverhalten weder diagnostiziert noch behandelt sind, der Fall. Wir rechnen mit chronischen Verläufen und Langzeitfolgen. Zudem erwarten wir weitere negative psychische und somatische Auswirkungen der Pandemie, die erst verspätet einsetzen oder erkannt werden.“
In der Altersgruppe der 5-9-Jährigen stiegen die Adipositas-Zahlen insgesamt an: Im Vergleich zum Vor-Pandemiezeitraum erhielten 14 Prozent mehr Grundschulkinder 2021 die Diagnose Adipositas. Dabei fällt die Zunahme bei Jungen etwas stärker aus als bei Mädchen. In der Altersklasse der 15- bis 17-Jährigen ist der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen ausgeprägter: So nahmen 2021 die Neuerkrankungen bei den 15- bis 17-jährigen männlichen Jugendlichen im Vergleich zu 2019 um 15 Prozent zu. Bei den Mädchen war es ein Plus von sechs Prozent.
Erstmals untersuchte der Kinder- und Jugendreport auch den Einfluss des sozio-ökonomischen Familienstatus auf die Gesundheit und Gesundheitsversorgung. Das Ergebnis: Jungen aus sozial schwachen Familien hatten 2021 ein deutlich erhöhtes Risiko, neu an Adipositas zu erkranken (15- bis 17-Jährige: +62 % gegenüber Jungen mit hohem sozialem Status). Vor der Pandemie war dieses Risiko deutlich niedriger ausgeprägt (+21 %). „Insgesamt scheint das Risiko einer Adipositas-Neuerkrankungsdiagnose den niedrigeren sozio-ökonomischen Familienstatus zu betreffen, also Familien, die ohnehin schon benachteiligt sind und weniger psychosoziale und ökonomische Ressourcen zur Verfügung haben, um effektiv auf die Herausforderungen der Pandemie zu reagieren“, so Correll. „Die kritischen Daten des Kinder- und Jugendreports legen nahe, dass mehrere Schritte notwendig sind, um eine weitere Verschlechterung des psychischen sowie körperlichen Zustands von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu verhindern und körperliche sowie seelische Gesundheit zu fördern. Wir brauchen gezielte Aufklärungs- und Präventionskampagnen, niedrigschwellige und auch digitale Hilfsangebote sowie multiprofessionelle Behandlungspfade. Insbesondere Familien aus niedrigeren sozio-ökonomischen Zusammenhängen sollten hierbei erreicht werden.“
Vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Pandemie auf die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen verlängert die DAK-Gesundheit die Laufzeit ihrer Präventionsinitiative fit4future. Gleichzeitig wird das Engagement ausgeweitet und neu ausgerichtet. Ziel ist es, Schulen und Kitas dabei zu begleiten, eine nachhaltig gesunde Lebenswelt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schaffen. Schwerpunkte sind die Handlungsfelder Bewegung, ausgewogene Ernährung, psychische Gesundheit und geistige Fitness sowie Suchtprävention. Bislang konnten mehr als 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche an mehr als 3.100 Einrichtungen von den Inhalten profitieren. Realisiert wird die Präventionsinitiative durch die DAK-Gesundheit und die fit4future foundation. Weitere Informationen: https://fit-4-future.de
Die DAK-Gesundheit ist mit 5,5 Millionen Versicherten die drittgrößte Krankenkasse Deutschlands und engagiert sich besonders für Kinder- und Jugendgesundheit.