Sprache als neues Diagnose-Instrument bei ALS und FTD
Bei neurodegenerativen Erkrankungen verändert sich schleichend auch die Sprache der Patienten. Schon leichteste Veränderungen können dank der Hilfe von Künstlicher Intelligenz künftig zur Grundlage für eine Diagnose werden.
Mit Hilfe von Sprachtests soll künftig eine erste Diagnose von schweren neurodegenerativen Erkrankungen möglich sein. Forschende vom DZNE entwickeln dazu sogenannte digitale Biomarker – das sind Kriterien, anhand derer eine Künstliche Intelligenz erkennen kann, ob sich das Sprachbild von Patienten infolge einer Krankheit verändert hat. Die Technologie schafft es, selbst winzige Sprachveränderungen zu erkennen, die für das menschliche Ohr unhörbar sind. Das DZNE-Projekt PROSA („Ein hochfrequenter PROgnostischer digitaler Sprach-Biomarker mit geringer Belastung“) wird jetzt mit 200.000 US-Dollar von der Alzheimer’s Drug Discovery Foundation und der Initiative Target ALS gefördert, die beide in den USA ansässig sind.
Im Mittelpunkt des Interesses der DZNE-Forschenden stehen die Frontotemporale Demenz (FTD) und die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Bei der FTD sterben die Nervenzellen vor allem im Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns ab – im frontalen und temporalen Lappen, der unter anderem für die Kontrolle von Emotionen und Sozialverhalten zuständig ist. Bei ALS sterben Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark ab. Beide Erkrankungen lassen sich bislang nur äußerst aufwendig diagnostizieren.
Die Sprache wird von Forschenden schon länger als denkbarer Indikator für neurodegenerative Erkrankungen in Betracht gezogen. „Es gab schon früher Ansätze, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler textuelle Faktoren ausgewertet haben: Wie komplexe Grammatik benutzten die Probanden, wie groß ist ihr Wortschatz, wie reihen sie Worte aneinander?“, erläutert Prof. Dr. Anja Schneider, Arbeitsgruppenleiterin am DZNE und Direktorin der Klinik für Neurodegenerative Erkrankungen und Gerontopsychiatrie am Universitätsklinikum Bonn. Es war allerdings eine mühsame und langsame Arbeit auf Grundlage von ausführlichen Transkripten des Gesagten. Die moderne Technik bietet jetzt neue Möglichkeiten: „Künstliche Intelligenz kann solche Analysen deutlich schneller durchführen und außerdem melodische Aspekte von Sprache mit berücksichtigen.“ Anja Schneider leitet im Rahmen des jetzt geförderten Projekts die Studie zu sprachlichen Änderungen bei FTD-Patienten, während sich ihr DZNE-Kollege Prof. Dr. Andreas Hermann auf ALS-Patienten fokussiert. Am Projekt sind darüber hinaus zwei private Firmen beteiligt.
Der Ablauf eines Sprachtests ist für die Patienten denkbar einfach: Sie bekommen drei offene Fragen gestellt – zu ihren Freizeitaktivitäten beispielsweise oder zu ihrem Werdegang. Denkbar sind auch freie Beschreibungen eines vorgelegten Bildes. Entscheidend ist: Die Versuchspersonen sprechen spontan drauf los. Die Künstliche Intelligenz analysiert in der Folge die Komplexität der Sprache – und sie berücksichtigt auch Pausen zwischen den Wörtern, das Sprechtempo und andere melodische Aspekte der Sprache. Bei ALS-Patienten, deren Atmung typischerweise durch die fortschreitende Krankheit eingeschränkt wird, kann die Künstliche Intelligenz zusätzlich auch hier schon in einem sehr frühen Stadium Auffälligkeiten feststellen. „Dialekte und andere individuelle Ausprägungen der Sprache haben keinen Einfluss auf die Genauigkeit der Ergebnisse“, sagt Anja Schneider. Ihre Beobachtung: „Die Künstliche Intelligenz erkennt so feine Nuancen von Sprachveränderungen, die man als normaler Zuhörer ohne technische Hilfsmittel überhaupt nicht erkennt.“
Die Bonner Forscher beziehen Daten aus zwei DZNE-Studien in die Entwicklung des Verfahrens ein: Bei Describe-FTD und Describe-ALS werden Patientinnen und Patienten über einen längeren Krankheitsverlauf hinweg mit aufwendigen klinischen Untersuchungen begleitet. Einige Probanden unterziehen sich für das PROSA-Projekt darüber hinaus auch verschiedenen Sprachtestungen, die mit kognitiven Untersuchungen kombiniert werden.
Dank dieser vielschichtigen Einblicke, so hoffen die Forscher, lassen sich die Sprach-Indikatoren weiterentwickeln: Wenn Aufnahmen des Gehirns und genetische Untersuchungen zeigen, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist – dann können die Wissenschaftler anhand der Sprachaufnahmen aus dem exakt gleichen Stadium des Krankheitsverlaufs feststellen, wie sich die Sprache verändert. „Wir wollen auch Antworten auf weitere Fragen finden“, sagt Anja Schneider: „Hängt die Präzision der Sprachtestung zum Beispiel mit der Tagesform der Patienten zusammen? Verschlechtert sich die Sprache im Krankheitsverlauf linear, so dass wir mit einem sprachlichen Marker nicht nur die Diagnose stellen könnten, sondern sogar Rückschlüsse darauf gewinnen würden, wie schnell die Krankheit beim jeweiligen Patienten voranschreitet?“
100 Patienten aus der ALS-Kohorte und 100 Patienten aus der FTD-Kohorte sollen in die Studie einbezogen werden; hinzu kommen weitere Probanden für die Kontrollgruppe.
Bislang ist eine Diagnose von FTD- und ALS-Patienten ausgesprochen aufwendig. Sie lässt sich üblicherweise nur in hochspezialisierten Expertenzentren stellen. Die notwendigen Untersuchungen dauern mindestens zehn Stunden, die Wartezeit für einen Termin liegt bei bis zu einem halben Jahr. Mit Hilfe eines Sprachtests könnten mögliche Patienten bereits vorher untersucht werden, idealerweise sogar per Telefon, um den Ärztinnen und Ärzten eine Unterstützung bei ihrer Diagnose zu liefern.
Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE): Das DZNE ist ein von Bund und Ländern gefördertes Forschungsinstitut, das bundesweit zehn Standorte umfasst. Es widmet sich Erkrankungen des Gehirns und Nervensystems wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Erkrankungen, die eine enorme Belastung für unzählige Betroffene, ihre Familien und das Gesundheitssystem bedeuten. Ziel des DZNE ist es, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Dafür kooperiert das DZNE mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das Institut ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und zählt zu den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung.