Angeborene Immunschwäche entdeckt – und aufgeklärt
Gemeinsame Pressemitteilung der Charité und des Max Delbrück Centers
Wie der Austausch eines einzelnen Bausteins im Erbgut einen bisher unbekannten Immundefekt beim Menschen auslöst, berichtet jetzt ein internationales Forschungsteam im Fachmagazin Science Immunology*. Maßgeblich beteiligt waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Einrichtung der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max Delbrück Centers. Sie haben eine spezifische Mutation im Genregulator IRF4 entdeckt.
Bei sieben Kindern mit ausgeprägter Immunschwäche entdeckte ein internationales Konsortium von Forschenden eine übereinstimmende Mutation im Gen für den Interferon-Regulations-Faktor 4 (IRF4). IRF4 ist ein sogenannter Transkriptionsfaktor, er reguliert also die Aktivität bestimmter Gene. Er ist aber auch wichtig während der Entwicklung und Aktivierung von Immunzellen. Die Patient:innen stammen aus sechs nicht verwandten Familien, die auf vier unterschiedlichen Kontinenten leben.
Wie das Team, zu dem die Gruppe von Prof. Dr. Stephan Mathas und Privatdozent Dr. Martin Janz vom ECRC gehört, belegen konnte, ist bei den Betroffenen im IRF4-Gen ein einzelner Baustein ausgetauscht. Bezeichnet wird diese spezifische genetische Veränderung als T95R-Mutation. Die Forschenden konnten außerdem aufklären, wie sich die Mutation auf das Immunsystem auswirkt: Ein bisher unbeschriebener Mechanismus führt zu einem angeborenen Immundefekt.
Angeborene Immundefekte sind selten und oft unterschiedlich stark ausgeprägt. „Immundefiziente Kinder leiden immer wieder an Infekten der oberen Atemwege“, erklärt Prof. Mathas. Es sind häufig Infektionen mit dem Epstein-Barr- oder Zytomegalie-Virus oder mit Pneumocystis jirovecii, einem Erreger, der Lungenentzündungen auslöst; allesamt Infektionen, die Mediziner:innen gut von Menschen mit Immunschwäche kennen.
Auch die sieben Patient:innen leiden unter diesen Infektionen. Bei genauer Untersuchung hat darüber hinaus ihr Immunsystem Gemeinsamkeiten: „Es fiel auf, dass alle Kinder zu wenig Antikörper im Blut haben und sehr wenig B-Zellen, die normalerweise diese Antikörper produzieren. Zudem ist die Zahl ihrer T-Zellen und deren Funktion im Vergleich zu Gesunden reduziert“, sagt Prof. Mathas. T-Zellen sind neben den B-Zellen und Antikörpern ein wichtiger Arm des Immunsystems.
Bei vielen Kindern mit angeborener Immunschwäche ist die Ursache des Defekts unbekannt, kann aber heutzutage durch Entschlüsselung der Erbinformation ermittelt werden. Auf diese Weise kam auch die IRF4-Mutation T95R zutage. Durch engen Austausch unter Kollegen in internationalen Netzwerken wurde klar, dass es sich bei der genetischen Ursache der Erkrankung dieser Kinder, deren Familien nicht verwandt sind, um die gleiche Mutation handelt. Sie sind die Indexpatient:innen, bei denen der Defekt nun erstmals beschrieben wird. Dem internationalen Konsortium ist es zudem gelungen, das gleiche Krankheitsbild auch durch gezielte Mutation von IRF4 bei der Maus zu erzeugen, wodurch es gelang, die durch IRF4 ausgelösten Fehlfunktionen im Immunsystem im Detail besser zu verstehen.
Die Mutation T95R liegt immer nur auf einer der beiden Kopien des Erbguts. Und obwohl die Patient:innen auch immer die gesunde Form von IRF4 bilden, entwickeln alle Betroffenen diese Immunschwäche. „Die Biologie der Mutation schlägt quasi die der gesunden Form“, sagt Prof. Mathas. Wie Erbgutanalysen der Familien ergaben, erbten die Indexpatient:innen die Genveränderung nicht von ihren Eltern, sondern sie trat spontan in der Keimbahn oder der frühen embryonalen Entwicklung auf.
Die Mutation liegt genau an der Stelle von IRF4, mit der der Genregulator an die DNA bindet. „Durch die Mutation verändert sich im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren die Affinität von IRF4 für die DNA“, erklärt Prof. Mathas. Das mutierte IRF4-Protein bindet deshalb nicht nur an bekannte DNA-Bindungsstellen je nach Kontext stärker oder schwächer, sondern zudem auch an Stellen des Erbguts, wo es gar nicht binden sollte; also Stellen, an denen die normale Variante des Proteins nie haften würde. Durch bioinformatische Analysen gelang es den Forschenden, diese neuen Bindungsstellen zu identifizieren. Die Forschenden beschreiben die Mutation in ihrer Publikation deshalb als „multimorph“, weil nicht nur bestimmte Gene blockiert, sondern andere und sogar neue aktiviert werden.
Je nach Art und Ausprägung einer angeborenen Immunschwäche erhalten Betroffene beispielsweise Stammzelltransplantationen oder lebenslange, regelmäßige Injektionen mit Antikörpern. „Die nun publizierte Arbeit lässt vermuten, dass man die Bindungsstellen von mutierten Transkriptionsfaktoren verändern könnte, ohne dabei die gesunde Variante zu beeinflussen“, sagt Prof. Mathas.
Die IRF4-Mutation T95R wird nun jedenfalls in den Katalog der Gene kommen, die zur Diagnostik der angeborenen Immunschwäche gehören. Interessanterweise spielt IRF4 auch bei der Entstehung von bestimmten Blutkrebsarten, an denen Prof. Mathas mit seinem Team forscht, eine wichtige Rolle.
*Fornes O et al. A multimorphic mutation in IRF4 causes human autosomal dominant combined immunodeficiency. Sci Immunol 2023 Jan 20. doi: 10.1126/sciimmunol.ade7953
Zur Studie
Zum Forschungskonsortium gehören neben zwei deutschen Arbeitsgruppen – von der Charité / dem MDC und der Universität Ulm – Forschende der Kinderkliniken und Universitäten in Canberra (Australien), Shanghai (China), Vancouver (Kanada), Paris (Frankreich), Nashville (USA) und den National Institutes of Health in Betheseda (USA).
Links:
Originalpublikation
AG Janz/Mathas am ECRC