Neuartige Methode ermöglicht Genstudien zur Funktion und zu Erkrankungen der Darmschleimhaut
Mit seiner Länge und der Vielzahl seiner Faltungen und Ausstülpungen stellt der Darm die größte Kontaktfläche zwischen unserem Körper und der Umwelt dar. Aktuell weiß man aber noch wenig darüber, welche Gene bei der Verdauung oder dem Kontakt zur Umwelt eine wichtige Rolle spielen. Forschenden vom Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut in Jena und Fred Hutchinson Cancer Center, Seattle, USA, ist es gelungen, eine neuartige Methode zu entwickeln, die genetische Untersuchungen über alle Regionen des Darms ermöglicht. So können zukünftig genetische Einflüsse auf die normale Funktion der Darmschleimhaut, aber auch bei Krankheiten oder beim Altern besser erforscht werden.
Jena/Seattle. Der Darm stellt mit einer Länge von rund acht Metern und seinen unzähligen, fingerförmigen Ausstülpungen die größte Kontaktfläche zwischen unserem Körper und der Umwelt dar. Als wichtigstes Organ des Verdauungstraktes zählen zu seinen Hauptaufgaben die Nährstoffaufnahme aus der Nahrung, die Bereitstellung von Energie und die Ausscheidung unverwertbarer Stoffe. Die Darmbarriere fungiert dabei als eine Art Schutzwall, um zu gewährleisten, dass keine Keime oder Fremdstoffe in den Körper gelangen und hat dadurch einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit (Immunabwehr).
Teil der Darmwand ist die Darmschleimhaut (Darmepithel), die die Innenseite des Darms auskleidet und bei der Aufnahme von Wasser, Elektrolyten und Nährstoffen eine wichtige Rolle spielt. Sie unterliegt darüber hinaus einem kontinuierlichen Erneuerungsprozess und ist mit einer Regenerationszeit von 3-10 Tagen das sich am schnellsten selbst erneuernde Gewebe bei erwachsenen Säugetieren. Trotz seiner vielfältigen Funktionen und enormen Bedeutung für die Gesundheit, weiß man – obwohl intensiv erforscht – bislang wenig, welche Gene bei der Verdauung oder dem Kontakt zur Umwelt eine wichtige Rolle spielen.
Forschenden vom Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena ist mit Kooperationspartnern vom Fred Hutchinson Cancer Center in Seattle, USA, nun ein wichtiger Meilenstein gelungen: Sie haben eine neuartige Methode entwickelt, die einerseits genetische Untersuchungen über alle Regionen des Darms ermöglicht und andererseits dafür eingesetzt werden kann, um den Einfluss von Genen auf die Krebsentstehung, den Alternsprozess oder die Interaktionen zwischen Wirt und Mikrobiom genauer zu untersuchen. Die aktuellen Forschungsergebnisse wurden jetzt im Journal „BMC Biology“ veröffentlicht.
Einzelgen-Mutationsanalysen versus Screening einer Vielzahl von Genen
„Über spezielle Keimbahnmutationen ist es momentan möglich, einzelne Gene im Darmepithel auszuschalten und deren Einfluss zu untersuchen. Doch trotz zahlreicher Anstrengungen gibt es bisher keine Methode, mit der man gleichzeitig eine Vielzahl von Genen untersuchen kann,“ berichtet K. Lenhard Rudolph, Forschungsgruppenleiter am FLI und Professor für Molekulare Medizin an der FSU Jena. Doch ein derartiger Ansatz wäre erforderlich, da das Genom von Menschen über 25.000 Gene besitzt, von denen etwa Dreiviertel in unserem Darm aktiv sind.
„Die Erforschung der Funktion dieser Gene über gezielte Einzelgen-Mutationsanalysen ist darüber hinaus sehr aufwendig und auch langwierig,“ ergänzt Prof. Rudolph. Prinzipiell ist es möglich, über Viruspartikel, die bestimmte Gensequenzen enthalten, Mutationen in einzelnen Zellen eines Gewebes zu induzieren. Mit diesem Ansatz sind Screening-Untersuchungen zu einer großen Anzahl von Genen gleichzeitig durchführbar. „Diese Methode wird bereits heute für die Untersuchung von Haut-, Leber- und Blutstammzellen angewendet, ist aber auf das Darmepithel bislang nicht übertragbar gewesen,“ unterstreicht der Stammzellforscher, „da die Stammzellen des Darmepithels tief versteckt in den Krypten sitzen und so für den Gentransfer durch die Viruspartikel sehr schwer zugänglich sind.“
Nachteile bisheriger Untersuchungsmethoden
„Derzeit bekannte Methoden zur Untersuchung des Darmepithels nutzen Darm-Organoide, kleine Mini-Organe, die in Zellkultur gezüchtet und durch die Zugabe von Viren genetisch verändert werden,“ ergänzt Dr. George B. Garside vom FLI und Erstautor der Studie. „Diese veränderten Mini-Organe werden anschließend in das Darmepithel von immungeschwächten Mäusen gespritzt, bevor dann der Einfluss der Gene auf die Darmfunktion untersucht wird.“
Dieses verwendete Verfahren hat jedoch mehrere Schwachstellen: Die Organoide müssen zunächst im Labor in Zellkultur gezüchtet und vermehrt werden, bevor sie anschließend durch spezifische Virus-Vektoren genetisch verändert werden können. Das alles läuft außerhalb des Organismus ab, d.h. den Mini-Organen fehlt ihre natürliche Umgebung, die aber die natürlich ablaufende Entwicklung und den Erhalt des Darmepithels steuert. Ausgelöst durch die unnatürlichen Wachstumsbedingungen in der Kultur können in den Darmstammzellen bereits Veränderungen entstehen, die somit die Funktion der Gene unter natürlichen Bedingungen nicht genau widerspiegeln.
Auch bei der Transplantation treten Probleme auf, denn aufgrund der Länge des Darms und der schlechten Zugänglichkeit von außen bleibt die Transplantation der Organoide auf den unteren Dickdarm beschränkt und weist insgesamt eine geringe Effizienz auf, was die Untersuchung auf nur wenige Gene begrenzt. „Aufgrund dieser ganzen Begrenzungen und Probleme war es notwendig, eine neue Methode zu finden, mit der in-situ, also direkt an Ort und Stelle, in der natürlichen Umgebung des ungestörten Darmepithels die Einbringung genetischer Veränderungen möglich ist und die Funktion einer Vielzahl von Genen im natürlichen Darmepithel untersucht werden kann,“ unterstreicht Dr. Garside. „Das hat auch den Vorteil, dass Selektionsprozesse, die sowohl bei der Vermehrung der Zellen in der Zellkultur als auch bei der Transplantation von genetisch veränderten Zellen auftreten können, dabei ausgeschlossen werden könnten.“
Neuartige Methode zur Untersuchung des Darmepithels
Den Forschenden gelang es, ein robustes und reproduzierbares Verfahren zu entwickeln, mit dem es möglich ist, eine große Anzahl von genetischen Veränderungen in Stammzellen des unveränderten, natürlichen Darmepithels einzubringen, ohne dass dabei eine Transplantation notwendig ist. „Wir verwendeten für unsere Studie Labormäuse, die als ein Säugetier in vielerlei Hinsicht die physiologischen Bedingungen des menschlichen Darmepithels sehr gut widerspiegeln,“ berichtet Prof. Rudolph.
Aufgrund der schwer zugänglichen anatomischen Lage der Stammzellen, die im Darmepithel erwachsener Mäuse tief verborgen in den Krypten liegen, wurde bereits während der frühen Embryonalentwicklung der Mäuse eine spezielle Mikroinjektionstechnik angewendet. Denn zu diesem frühen Zeitpunkt der Entwicklung ist der Darm noch nach außen gestülpt und dadurch für die Einbringung gezielter genetischer Veränderungen leichter zugänglich.
Enormes Potenzial – Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten
Die Studienergebnisse zeigen, dass die neue Technik zur Untersuchung der Genfunktion im Darmepithel sowohl während der Entwicklung als auch in erwachsenen Tieren genutzt werden kann. Darüber hinaus hat die Methode das Potenzial, Gene zu identifizieren, die einen Einfluss auf die Krebsentstehung, die Alterung und die Interaktionen zwischen dem Mikrobiom (den Bakterien im Darm) und dem Wirt haben.
Der große Vorteil dieser Methode besteht vor allem darin, dass mit ihr die Durchführung von genetischen in vivo-Screens im ungestörten Darmepithel von Mäusen und möglicherweise auch in anderen Modellorgansimen möglich ist. So können alle Regionen des Magen-Darm-Trakts, einschließlich Magen, Dünndarm und Dickdarm, genetisch verändert und untersucht werden.
Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass diese Technik auch auf andere aus dem Entoderm abstammenden Organe angewendet werden kann, wie z.B. Bauchspeicheldrüse, Leber, Blase und Lunge, so dass die Methode auch für andere Forschungsbereiche von großem Nutzen sein könnte. Die Entwicklung dieser Methode ist für die Erforschung dieser Organe von großer Bedeutung und könnte insbesondere Entdeckungen zur Biologie, Funktion und Entstehung von Krankheiten des Darmepithels beschleunigen.
Publikation
Lentiviral in situ targeting of stem cells in unperturbed intestinal epithelium. Garside GB, Sandoval M, Beronja S, Rudolph KL. BMC Biol. 2023, 21(1), 6. doi: 10.1186/s12915-022-01466-1.
https://bmcbiol.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12915-022-01466-1
Hintergrundinformation
Das Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena widmet sich seit 2004 der biomedizinischen Alternsforschung. Rund 350 Mitarbeiter aus ca. 40 Nationen forschen zu molekularen Mechanismen von Alternsprozessen und alternsbedingten Krankheiten. Näheres unter http://www.leibniz-fli.de.
Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 97 eigenständige Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen – in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Die Leibniz-Institute unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.500 Personen, darunter 11.500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das Finanzvolumen liegt bei 2 Milliarden Euro. (http://www.leibniz-gemeinschaft.de).