Das TOR zur besseren Krebstherapie
Die gängige Chemotherapie schlägt bei Darmkrebs oft nicht ausreichend an. Dies liegt unter anderem daran, dass sterbende Darmkrebszellen die Überlebensfähigkeit ihrer Nachbarzellen im Tumor fördern, wie Frankfurter Forscher jetzt zeigen konnten. Diese Erkenntnis wollen sie nun nutzen, um die bestehende Therapie zu verbessern.
Darmkrebs ist weltweit eine der häufigsten Krebsarten – in Deutschland rangiert er bei Männern auf Platz 3, bei Frauen sogar auf Platz 2 – und noch dazu eine der tödlichsten: Rund 24 000 Frauen und Männer sind im Jahr 2019 laut dem Zentrum für Krebsregisterdaten in Deutschland daran verstorben. Die Diagnose „Darmkrebs“ umfasst Erkrankungen des Dickdarms (Kolonkarzinom) und des Mastdarms (Rektumkarzinom), weshalb Mediziner auch vom kolorektalen Karzinom sprechen. Dabei verweist der Begriff Karzinom auf einen bösartigen Tumor, der seinen Ursprung im Deckgewebe (Epithel) der Haut oder – wie beim kolorektalen Karzinom – der Schleimhäute hat.
Der Behandlungserfolg beim kolorektalen Karzinom hängt noch immer sehr stark davon ab, wann die Krankheit erkannt wird. In einem frühen Krankheitsstadium führt eine operative Entfernung des Tumors oft zu einer vollständigen Heilung. Sind dagegen bereits die angrenzenden Lymphknoten befallen, reicht eine Operation nicht mehr aus, sodass in der Regel eine Chemotherapie angeschlossen wird. Obwohl zu diesem Zweck wirksame Medikamente zur Verfügung stehen, lässt sich die Krankheit oft nicht mehr vollständig zurückdrängen; die Sterblichkeit in dieser Krankheitsphase ist hoch. Ein schon länger bekannter Grund dafür ist, dass einzelne Darmkrebszellen durch eine Veränderung ihres Erbguts gegen eingesetzte Chemotherapeutika unempfindlich werden können. Einen gänzlich neuen Mechanismus, der Darmtumoren hilft, eine Chemotherapie zu überleben und anschließend weiter zu wachsen, haben nun Forschende des Georg-Speyer-Hauses und der Goethe-Universität Frankfurt gefunden. Ihre Ergebnisse, die in der renommierten Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurden, sollen jetzt helfen, die Behandlung von Krebspatienten zu verbessern.
Nicht alle sterben
Eine Chemotherapie hat das Ziel, Tumorzellen zum Absterben zu bringen. Bei Darmkrebs wird dazu klassischerweise die Substanz 5-Fluorouracil (5-FU) eingesetzt. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes Antimetabolit – ein Molekül, das einem der Bausteine des Erbguts strukturell ähnelt. Durch diese Ähnlichkeit wird es von der zellulären Maschinerie wie der natürliche Baustein verwendet, allerdings ohne dessen Funktion zu erfüllen. Am Ende wird dadurch die Neusynthese des Erbguts blockiert. Insbesondere schnell wachsende Zellen wie Krebszellen, aber auch Immunzellen, sind für Chemotherapeutika wie 5-FU anfällig, während die meisten gesunden Körperzellen weniger beeinträchtigt werden.
In der Praxis ist allerdings immer wieder zu beobachten, dass nicht alle Darmkrebszellen durch die Behandlung mit 5-FU sterben. Im Anschluss an die Therapie vermehren sich diese Zellen, sodass der Tumor wieder wächst. Wieso dies geschieht, wenn keine genetisch erworbene Resistenz vorliegt, war bis zur jetzt erschienenen Publikation des Forschungsteams um den Direktor des Georg- Speyer-Hauses Florian Greten und seinen Mitarbeiter und Erstautor Mark Schmitt nicht wirklich verstanden. „Ein früheres Experiment hat uns darauf gebracht, dass hierfür vielleicht die sterbenden Darmkrebszellen verantwortlich sein könnten“, erinnert sich Greten, der eine Professur für Tumorbiologie an der Goethe-Universität innehat und als Sprecher des hessischen LOEWE- Zentrums Frankfurt Cancer Institute fungiert. „Für dieses Experiment hatten wir in einem Tumormodell gezielt eine Gruppe von Zellen – die Stammzellen – zum Absterben gebracht, aus denen sich der Tumor der herkömmlichen Auffassung nach erneuern sollte. Entgegen unserer Erwartung wuchs der Tumor aber ohne die Stammzellen weiter, und wir fanden, dass in den überlebenden Krebszellen ein bestimmter Signalweg neu angeschaltet war. Darauf aufbauend wollten wir testen, ob sich Ähnliches auch bei einer Chemotherapie abspielt.“
Auf Wachstum umprogrammiert
Um diese Hypothese zu überprüfen, verwendeten die Frankfurter Organ-ähnliche Strukturen, die sie im Labor aus menschlichen Darmkrebszellen herstellten. Wenn sie diese Organoide mit dem Standardtherapeutikum 5-FU behandelten, starben wie erwartet die meisten Krebszellen – einige überlebten aber auch. Und in diesen Überlebenden war nun tatsächlich der Signalweg angeschaltet, auf den Greten und sein Team in ihrem früheren Experiment aufmerksam geworden waren. Dieser mTOR-Signalweg ist komplex reguliert und kann in der Zelle eine Vielzahl an Reaktionen hervorrufen; grundsätzlich ist er aber immer mit Wachstumsprozessen verbunden. Nicht überraschend ist deshalb ein durch eine Fehlregulierung überaktiver mTOR-Signalweg einer der Faktoren, die be- kanntermaßen die Entstehung von Krebs fördern. Wirkstoffe, die hemmend in den Weg eingreifen, werden deshalb bereits als Krebsmedikament eingesetzt.
Einer dieser TOR-Hemmstoffe ist Rapamycin. Seine Wirkung machten sich die Frankfurter Forscher zunutze, um zu bestätigen, dass der angeschaltete mTOR-Signalweg tatsächlich das Wachstum überlebender Darmkrebszellen förderte. „Wenn wir Rapamycin gleichzeitig mit 5-FU zu den Organoiden gaben, konnten die Tumorzellen, die die 5-FU-Behandlung überlebt hatten, nicht mehr wachsen – der Tumor ging zugrunde“, erklärt der Onkologe. In Versuchstieren zeigte sich das gleiche Bild: Unter die Haut von Mäusen verpflanzte Tumoren schrumpften nach einer Behandlung mit 5-FU stärker, wenn ihnen gleichzeitig Rapamycin verabreicht wurde.
Signal im Zellsaft
Wie konnte man aber sicher sein, dass die sterbenden Zellen für das Anschalten des mTOR-Wegs verantwortlich waren und diese Reaktion nicht durch die Gabe von 5-FU ausgelöst wurde? Um diese Frage zu beantworten, griffen die Forscher auf ein genetisches Werkzeug zurück, mit dem sie bereits die ersten Hinweise auf die Bedeutung der sterbenden Zellen gesammelt hatten. „Wir stellten Darmkrebs-Organoide her, in denen wir gezielt Stammzellen in den Tod treiben konnten“, erklärt Greten. „Das funktioniert, weil die Stammzellen eine künstlich eingebrachte Genkassette tragen, die auf einen bakteriellen Giftstoff reagiert. Geben wir dieses Toxin zu den Organoiden, sterben ausschließlich die Stammzellen darin – etwa ein Drittel aller Zellen.“ Bei den überlebenden 70 Prozent der Zellen zeigte sich wie erhofft die Aktivierung des mTOR-Signalwegs, obwohl kein 5-FU im Spiel war. Und auch Rapamycin wirkte wie in den vorherigen Experimenten, indem es das Wachstum des Tumors verhinderte.
Die nächste Frage war, welches Signal die sterbenden Zellen nutzten, um ihre überlebenden Nachbarn umzuprogrammieren. Stirbt eine Zelle z. B. durch ein Chemotherapeutikum, platzt ihre Hülle und ihr Inhalt ergießt sich in die Zellzwischenräume. Einige darin enthaltene Substanzen regen bekanntermaßen das Immunsystem dazu an, Zelltrümmer zu beseitigen und Reparaturmechanismen einzuleiten. Andere könnten dagegen die Aktivierung des mTOR-Signalwegs auslösen. „Um das zu überprüfen, stellten wir ein Filtrat von Organoiden her, nachdem wir bei ihnen einen Teil der Zellen in den Tod geschickt hatten“, erläutert Greten. „Das Filtrat enthielt somit alle Bestandteile, die die sterbenden Zellen nach außen abgegeben hatten. Wenn wir es zu unbehandelten Organoiden gaben, war anschließend in allen Zellen der mTOR-Signalweg aktiv.“
Abhängigkeit macht verwundbar
Nachdem es verschiedene Komponenten des Zellinhalts ausgeschlossen hatte, konzentrierte sich das Forschungsteam auf den universellen Energieträger Adenosintriphosphat (ATP). Dieser wird einerseits von den behandelten Organoiden in großen Mengen freigesetzt und kann andererseits – entweder selbst oder als Abbauprodukt – bestimmte Rezeptoren (Purinozeptoren) auf der Oberfläche der Darmkrebszellen ansprechen. Wenn die Wissenschaftler ATP direkt zu ihren Organoiden gaben, wurde der mTORWeg angeschaltet. Hemmten sie allerdings die Purinozeptoren, blieb dieser Effekt aus. „Wir konnten zeigen, dass ATP sehr spezifisch den P2X4-Rezeptor bindet, der in Epithelzellen hochreguliert ist“, so Greten. „Das aktiviert dann auf noch nicht ganz verstandene Weise den mTOR-Signalweg.“
Klinische Studie in Vorbereitung
Aber warum ist das eigentlich so? Vor dem Kontakt mit sterbenden Zellen ist der Signalweg für das Überleben der Krebszellen offensichtlich nicht nötig. Die Antwort fanden die Forschenden wiederum im Zellsaft der geplatzten Zellen. „Neben ATP und vielen anderen Stoffwechselprodukten werden auch reaktive Sauerstoffverbindungen freigesetzt, die Zellstrukturen wie das Erbgut schädigen können“, erklärt Greten. „Wir konnten zeigen, dass diese reaktiven Verbindungen in den Zellen, die mit ihnen in Berührung kommen, ein zelleigenes Programm aktivieren, das die Zellen in den programmierten Zelltod treibt.“ Dieser auch als Apoptose bezeichnete Prozess dient dazu, schadhafte Zellen einem geordneten Abbau zuzuführen und soll verhindern, dass beschädigte Zellen durch Fehlfunktion dem Organismus schaden. Der mTOR-Weg wiederum ist ein starker Gegenspieler der Apoptose – seine gleichzeitige Aktivierung kann den Tod der Zelle abwenden und stattdessen Wachstumsprozesse einleiten.
Und hier kommt die Medizin ins Spiel, wie Krebsforscher Greten darlegt: „Wenn es uns gelingt, den mTOR-Weg in Patienten zu hemmen, behält das pro-apoptotische Programm die Oberhand und der Tumor geht zugrunde.“ Dafür könnte Rapamycin zum Einsatz kommen, das für andere Indikationen als Medikament zugelassen ist. Allerdings hat Greten dabei Bedenken: „Rapamycin hat eine geringe therapeutische Breite, das heißt, es sind viel Nebenwirkungen zu erwarten, weil der mTOR-Weg so zentral ist und viele Funktionen in der Zelle beeinflusst.“ Eine Alternative sieht der Onkologe deshalb in spezifischen Hemmstoffen des P2X4-Rezeptors. Durch sie ließe sich verhindern, dass der mTOR-Weg durch die Bindung von ATP aktiviert wird. „Wir planen gerade gemeinsam mit einem pharmazeutischen Unternehmen, das einen solchen Hemmstoff entwickelt hat, eine erste klinische Studie“, so der Mediziner. Wenn diese Studie Erfolg hat, könnte eine etablierte Therapie mit wenig Aufwand so verändert werden, dass sie deutlich schlagkräftiger als bisher gegen Darmtumoren vorgehen kann.
Autorin: Larissa Tetsch