Kinder mit ADHS haben seltener sichere Bindung
In einer kürzlich abgeschlossenen Studie untersuchten Wissenschaftler*innen der Universität Siegen, ob und wie sich Kinder mit einer ADHS-Diagnose und deren Eltern hinsichtlich der Bindungsklassifikationen von klinisch unbelasteten Kindern und deren Eltern unterscheiden.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zählt mit einer Auftretenshäufigkeit von 5 bis 7 Prozent weltweit zu den am häufigsten vorkommenden kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern. „Eine ADHS ist ein Störungsbild, das langfristig auftritt und schwerwiegende Auswirkungen auf zentrale Lebensbereiche der betroffenen Kinder und deren Familien hat“, erklärt Prof. Dr. Rüdiger Kißgen, Professor für Entwicklungswissenschaft und Förderpädagogik an der Universität Siegen. Der Wissenschaftler beschäftigt sich seit vielen Jahren aus der Forschungsperspektive mit dieser Thematik. Im Fokus der aktuellen Studie von Prof. Kißgen und seinem Team steht die Frage, ob und wie sich die ADHS-Diagnose eines Kindes auf dessen und auf die Bindungsrepräsentation der Eltern auswirkt und welche Bedeutung die Ergebnisse für die Familiendynamik haben.
„Unter Bindung wird im wissenschaftlichen Kontext die besondere Form einer Beziehung verstanden, die ein Säugling nur an jene Personen entwickelt, von denen er in seinem ersten Lebensjahr beständig betreut wird. Da sich Eltern oder andere Bindungspersonen im Umgang mit dem Säugling erheblich voneinander unterscheiden können, wird der Säugling sich bis zum 12. Monat unterschiedlich an diese Hauptbezugspersonen binden“, so Prof. Kißgen. Dabei gebe es vier definierte Bindungsklassifikationen: sicher, vermeidend, ambivalent und desorganisiert. Aus den Längsschnittstudien der Bindungsforschung weiß man seit vielen Jahren, dass die sichere Bindung einen Schutzfaktor für die psychosoziale Entwicklung des Kindes bis zum jungen Erwachsenenalter darstellt. Demgegenüber handelt es sich bei der desorganisierten Bindung um einen Risikofaktor für eine psychopathologische Entwicklung.
Im Rahmen einer Forschungskooperation mit der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln haben Prof. Kißgen und sein Team über einen Zeitraum von drei Jahren 80 Kinder von 5 bis 9 Jahren mit einer ADHS-Diagnose und deren Eltern untersucht. Ebenso wurden 80 klinisch unbelastete Kinder und deren Eltern an Grundschulen in Siegen, Bonn und Köln als Kontrollgruppe untersucht.
Die Ergebnisse zur Hauptforschungsfrage zeigen in einem statistisch bedeutsamen Ausmaß, dass Kinder mit einer ADHS-Diagnose und deren Eltern erheblich seltener eine sichere und erheblich öfter eine desorganisierte Bindungsklassifikation aufweisen als die Kinder und Eltern der Kontrollgruppe. Zusätzlich zur Untersuchung der Bindungsklassifikation wurde über Fragebögen erhoben, wie die Eltern ihre eigene und die familiäre Belastung einschätzen und wie die Einschätzung der Verhaltensauffälligkeit ihrer Kinder ausfällt. Darüber hinaus wurden auch die Kinder aufgefordert, sich selbst über Fragebögen zu möglichen Verhaltensauffälligkeiten einzuschätzen. Die elternbezogenen Ergebnisse sind wenig überraschend: Mütter und Väter der Kinder mit diagnostizierter ADHS schätzen sich selbst und die familiäre Situation erheblich belasteter ein als die Eltern der nicht-klinischen Stichprobe. Auch stufen sie ihre Kinder deutlich verhaltensauffälliger ein, als die Eltern der unbelasteten Kinder. Überraschend fällt jedoch die Selbsteinschätzung der Kinder hinsichtlich möglicher Verhaltensauffälligkeiten aus. Sowohl die Kinder mit einer ADHS als auch die Kontrollgruppenkinder schätzen sich selbst als wenig verhaltensauffällig ein.
„Als vorläufiges Fazit aus der noch nicht vollständig ausgewerteten Studie lässt sich die Aussage treffen, dass es keinen Sinn macht, bei einer ADHS-Diagnose die Behandlung ausschließlich auf das Kind auszurichten“, so Prof. Kißgen. Da die sichere Bindung in den von ADHS betroffenen Familien seltener und die desorganisierte Bindung häufiger auftritt, liegen dort weniger Schutzfaktoren und mehr Risikofaktoren für die familiäre Dynamik zwischen den Kindern und ihren Eltern vor. Beides trägt vermutlich dazu bei, dass das von den Eltern angegebene Belastungsausmaß äußerst stabil ist und nur durch professionelle Begleitung angemessen reduziert werden kann.