Neue Therapieoptionen bei Myasthenia gravis

Bei der generalisierten Myasthenia gravis (MG) stören Autoantikörper die Signalübertragung von Nerven auf die Muskulatur; es kommt zu belastungsabhängiger Muskelschwäche bzw. schneller Ermüdung verschiedener Muskeln. Moderne Therapien setzen selektiv an unterschiedlichen Stellen des Immunsystems an. Während traditionell Kortikosteroide zusammen mit immunsuppressiven Medikamenten zur Therapie verwendet wurden, etablieren sich seit wenigen Jahren nun spezifischere Substanzen mit schnellem Wirkeintritt und gutem Nutzen-Nebenwirkungsprofil. Nun erschienen zwei Phase-III-Studien zu neuen Präparaten [1, 2], einem Komplement-Inhibitor und einem FcRn-Rezeptorblocker.

Die Myasthenie (Myasthenia gravis/MG) ist eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper (meist IgG) gegen muskuläre Rezeptoren gebildet werden (z.B. den Acetylcholin-/ACh-Rezeptor). Dadurch wird die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln gestört und es kommt zu Muskelschwäche bzw. schneller Muskelermüdung, besonders unter Belastung. Die MG verläuft individuell sehr unterschiedlich, auch schwere Formen sind möglich (ausgeprägte Lähmungen, Schluck- und Atemstörung). Unterschieden werden die okuläre Form und die generalisierte MG. Die Erkrankung ist nicht heilbar, jedoch gibt es heute insgesamt gute Therapiemöglichkeiten und das Therapieziel der „bestmöglichen Krankheitskontrolle“. Die aktualisierte Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) erschien im Februar dieses Jahres [3]. Bei Therapieentscheidungen spielt neben dem Antikörperstatus (AChR-Ak-, MuSK-Ak-, LRP4-Ak-positive sowie seronegative MG) die Einschätzung der Erkrankungsschwere bzw. -aktivität eine wichtige Rolle. Die Behandlung erfolgt abhängig davon.

Seit 2022 steht der humanisierte monoklonale Antikörper Efgartigimod zur Verfügung, ein Blocker des neonatalen Fc-Rezeptors (FcRn). Er ist damit der erste verfügbare Wirkstoff dieser Substanzklasse (FcRn-Modulatoren). In vivo hat der FcRn verschiedene Funktionen beim Transport und Recycling von IgG. So verhindert die Bindung von FcRn an IgG-Antikörper deren Abbau. Eine medikamentöse FcRn-Blockade verhindert die Bindung von IgG an den FcRn, so dass der Körper die IgG-Autoantikörper schneller abbauen kann.

Rozanolixizumab ist ein neuer FcRn-Modulator bzw. spezifischer Blocker des FcRn, dessen Sicherheit und Wirksamkeit bei generalisierter MG (zusätzlich zu einer Basistherapie mit Cholinesterasehemmern und Immunsuppressiva) in der MycarinG-Studie [1] in 81 Zentren in Asien, Europa und Nordamerika evaluiert wurde. Insgesamt 200 Betroffene (≥18 Jahre) mit einem MG-ADL-Score („Myasthenia Gravis Activities of Daily Living“) von ≥3 sowie einem quantitativen Myasthenia-Gravis-Score ≥11 wurden in die Studie aufgenommen. Anders als bei Efgartigimod wurden in der Studie nicht nur Betroffene mit AChR-Antikörpern, sondern auch solche mit MuSK-Autoantikörpern (mit milder/moderater Aktivität) eingeschlossen. Die Teilnehmenden erhielten über sechs Wochen einmal wöchentlich subkutane Rozanolixizumab-Infusionen, entweder mit 7 mg/kg (n=66), 10 mg/kg (n=67) oder Placebo (n=67). Der primäre Endpunkt war die Reduktion des MG-ADL-Scores bis Tag 43. Die Besserung war in beiden Rozanolixizumab-Gruppen signifikant größer als unter Placebo: unter 7 mg/kg betrug die mittlere Veränderung -3,37 und unter 10 mg/kg -3,4 (vs. Placebo -0,78; jeweils p<0,0001). Schwerwiegende behandlungsbedingte unerwünschte Ereignisse („Treatment-emergent adverse events“/TEAEs) gab es in der Gruppe mit 7 mg/kg Rozanolixizumab bei 8%, mit 10 mg/kg bei 10% sowie mit Placebo bei 9%. Todesfälle traten nicht auf. Die MycarinG-Studie bestätigte somit die Wirksamkeit einer FcRn-Blockade bei generalisierter MG – und zwar nicht nur bei AChR-positiven, sondern auch bei Betroffenen mit MuSK-Autoantikörpern (auch wenn dies deutlich weniger Patientinnen und Patienten waren).

Antikörper zur Inhibition des Komplementsystems stehen als zweite neue Wirkstoffgruppe zur Therapie zur Verfügung. Während der monoklonale Antikörper Eculizumab für die generalisierte, AChR-Ak-positive MG mit der Einschränkung einer sogenannten „Therapierefraktärität“ seit einigen Jahren zugelassen ist, wurde 2022 mit Ravulizumab ein weiterer humanisierter monoklonale Antikörper gegen das C5-IElement des Komplementsystems breiter für die generalisierte Myasthenie zugelassen.

Zilucoplan ist ein weiterer C5-Komplement-Inhibitor, allerdings kein monoklonaler Antikörper, sondern ein makrozyklisches Peptid, welches einmal täglich subkutan selbst verabreicht wird. In der RAISE-Studie wurde Zilucoplan bei 174 Betroffenen an 75 Zentren in Europa, Japan und Nordamerika (18-74 Jahre, AChR-AK-positiv) untersucht [2]. Die Teilnehmenden wiesen einen MG-ADL-Score von ≥6 sowie einen quantitativen Myasthenia-Gravis-Score ≥12 auf. Sie erhielten für 12 Wochen subkutan 1x täglich (als Selbstinjektion) entweder Zilucoplan 0,3 mg/kg (n=86) oder Placebo (n=88). Unter Zilucoplan sank der MG-ADL-Score um -4,39 versus -2,30 unter Placebo (Differenz signifikant, p=0,0004). Schwere TEAEs und schwere Infektionen traten in beiden Gruppen in etwa gleich häufig auf. In jeder Gruppe gab es einen Todesfall, die jedoch beide nicht im Zusammenhang mit dem Studienmedikament standen. Ursachen war eine COVID-19-Infektion (in der Verum-Gruppe) und eine Hirnblutung (in der Placebo-Gruppe).

„Die beiden neuen Substanzen können künftig das Therapiearmamentarium bei MG erweitern, so dass wir die Patientinnen und Patienten noch individueller und konsequenter behandeln können“, kommentiert Prof. Heinz Wiendl, Münster. „Mit Zilucoplan hätten wir einen dritten Komplement-Inhibitor für die Add-on-Therapie der generalisierten MG. Die Substanz wird nicht als ärztlich überwachte i.v.-Infusion (bei Eculizumab zweiwöchentlich oder Ravulizumab alle acht Wochen) verabreicht, sondern täglich subkutan von den Betroffenen selbst injiziert. Für viele, beispielsweise berufstätige Menschen, könnte dies im Alltag praktikabler sein“, so Prof. Wiendl.

„Mit Rozanolixizumab bestünde – sofern die Zulassung dies auch bestätigt – eine zusätzliche Therapieoption für eine seltene MG-Subgruppe“, erläutert Wiendl weiter. „MuSK-positive Patientinnen und Patienten haben nämlich oft einen schwereren Krankheitsverlauf und sind schwieriger zu behandeln, da sie ein schlechteres Therapieansprechen auf die bisherigen Medikamente zeigen, Komplementinhibition wegen anderer Immunglobulinklassen gar nicht wirken. Therapiestandard hier ist bis heute nach wie vor die B-Zell-Depletion.“

Literatur

[1] Bril V, Drużdż A, Grosskreutz J et al. Safety and efficacy of rozanolixizumab in patients with generalised myasthenia gravis (MycarinG): a randomised, double-blind, placebo-controlled, adaptive phase 3 study. Lancet Neurol 2023 May; 22 (5): 383-394 doi: 10.1016/S1474-4422(23)00077-7.

[2] Howard JF, Bresch S, Genge A et al. Safety and efficacy of zilucoplan in patients with generalised myasthenia gravis (RAISE): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 study. Lancet Neurol 2023 May; 22 (5): 395-406 doi: 10.1016/S1474-4422(23)00080-7

[3] Wiendl H., Meisel A. et al., Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome, S2k-Leitlinie, 2022, DGN, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 03.05.2023)