Multiple Sklerose: Ultrastrukturelle Veränderungen im Gehirngewebe befördern Entzündungsprozesse
Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Charakteristisch dafür sind Entzündungsherde und Schädigungen in der sogenannten weißen Substanz im Gehirn, die aus langen Nervenfasern und Myelin besteht. Ein deutsch-niederländisches Forschungsteam hat nun herausgefunden, dass ultrastrukturelle Veränderungen in gesunden Bereichen der weißen Substanz von MS-Patienten das Gewebe anfälliger machen für Entzündungen und die Bildung von Läsionen. Dies könnte das Fortschreiten der Krankheit befördern.
Morgens sieben Uhr, der Wecker klingelt – Augen aufschlagen, Beine aus dem Bett schwingen, auf der Arbeit einen Vortrag halten, abends ein Tennismatch spielen. All dies ermöglichen uns Milliarden von Nervenzellen, die die graue Substanz in unserem Gehirn bilden. Sie sind millionenfach miteinander verschaltet durch tiefer im Gehirn verlaufende Nervenfasern, Axone genannt. Viele dieser Axone sind von einem zellulären „Isolierband“ umwickelt. Die Isolierschicht besteht aus Myelin, einer fettreichen Substanz, die Axone in bis zu 150 Schichten umhüllt. Axone und Myelin bilden zusammen die sogenannte weiße Substanz. In regelmäßigen Abständen weisen die Myelinscheiden eine kleine Lücke auf, die als Ranvierscher Schnürring bezeichnet werden. Wird ein Signal mittels eines elektrischen Nervenimpulses von einer Zelle zur nächsten übermittelt, springt dieser regelrecht von einem Schnürring zum nächsten. Dies macht die Kommunikation an myelinisierten Axonen 100 mal schneller.
Die weiße Substanz ist aber weit mehr als ein gut sortierter und bestens isolierter „Kabelverband“. Sie hilft bei vielen anderen verschiedenen Vorgängen im Gehirn wie Lernen, Gedächtnis oder sozialer Kompetenz. Wird dieses Gewebe geschädigt, können sich Krankheiten wie beispielsweise Multiple Sklerose (MS) entwickeln. Bei der MS-Erkrankung, an der allein in Deutschland bis zu 280.000 Menschen leiden, wird die Myelin-Schicht um die Axone stückchenweise beschädigt oder zerstört. Diese Läsionen, verbunden mit Entzündungsreaktionen lassen sich in bildgebenden Verfahren nachweisen.
Noch wissen Wissenschaftler*innen jedoch wenig darüber, wie Veränderungen von Axonen und Myelin auf subzellulärer Ebene mit Entzündungsprozessen zusammenhängen. Forschende um Wiebke Möbius am Max-Planck-Institut (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften und Inge Huitinga am Netherlands Institute for Neurosciences in Amsterdam (Niederlande) haben jetzt herausgefunden, dass die normal erscheinende weiße Substanz in MS-Patient*innen in ihrer Feinstruktur – Ultrastruktur genannt – bereits verändert ist, bevor die ersten Entzündungsherde auftreten.
Qualität der Myelinproben entscheidend
„Die Bereiche, die für die MS-Krankheit möglicherweise entscheidend sind, lassen sich auf ultrastruktureller Ebene nur mithilfe der Elektronenmikroskopie untersuchen“, sagt Möbius. Allerdings seien die Gewebestrukturen bei herkömmlichen Präparationsverfahren aufgrund der chemischen Fixierung und Einbettung häufig geschädigt. „Dies gilt ganz besonders für das empfindliche Myelin. Die große Herausforderung für uns war es daher, die Strukturen in der Gewebeprobe besser als bisher zu erhalten. Dafür haben wir vor allem die Fixiermethode der Proben optimiert“, erklärt die Leiterin der Facility für Elektronenmikroskopie am City-Campus des Instituts.
Für ihre Experimente konnten die Forschenden auf Gewebeproben in der Netherlands Brain Bank zurückgreifen. Diese Proben stammen von MS-Patient*innen, die sich zu Lebzeiten bereiterklärt hatten, ihr Gehirn post mortem für Forschungszwecke und medizinische Aufzeichnungen zu spenden.
Wie das Forschungsteam zeigen konnten, sind in der normal aussehenden weißen Substanz von MS-Erkrankten die Myelinscheiden auffällig verändert und das Myelin weniger kompakt. Auch sind die Ranvierschen Schnürringe desorganisiert. Neben diesen Strukturveränderungen fanden die Forschenden in dem scheinbar normalen Gewebe auch zelluläre Marker für eine Entzündung: T-Lymphozyten und aktivierte Immunzellen des Gehirns, Mikrogliazellen genannt. Nicht zuletzt war auch die Dichte der Mitochondrien – die Kraftwerke der Zelle – in den Fortsätzen von Nervenzellen auffällig erhöht, was nahelegt, dass die Kommunikation zwischen Nervenzellen mehr Energie erfordert als bei gesunden Menschen. Aletta van den Bosch aus dem niederländischen Team erklärt dazu: „Mitochondrien produzieren allerdings nicht nur lebenswichtige Energie, sondern auch viele Nebenprodukte wie Sauerstoffradikale. Wir vermuten, dass diese den Myelinabbau verstärken könnten.“
„Wir sehen sehr deutlich, dass bei MS ultrastrukturelle Veränderungen der weißen Substanz mit chronischen Entzündungen im Gehirn zusammenhängen. Beide krankhaften Auffälligkeiten könnten zum Fortschreiten der Krankheit beitragen. Dass sich die Ultrastruktur des Myelins nun in einer solchen Qualität für Untersuchungen im Elektronenmikroskop erhalten lässt, wird hoffentlich weitere neue Einsichten ermöglichen“, so Möbius.
Originalpublikation:
van den Bosch, A. M. R.; Hümmert, S.; Steyer, A.; Ruhwedel, T.; Hamann, J.; Smolders, J.; Nave, K.-A.; Stadelmann, C.; Kole, M. H. P.; Möbius, W.; Huitinga, I.: Ultrastructural axon-myelin unit alterations in multiple sclerosis correlate with inflammation. Ann Neurol 93, 856-870 (2022).
https://doi.org/10.1002/ana.26585