Nature-Studie: Wissenschaftler entschlüsseln zentralen Mechanismus der Energiegewinnung im Körper
Funktioniert die Energieversorgung von Körperzellen nicht richtig, können schwerwiegende Erkrankungen die Folge sein. Eine zentrale Rolle spielt hierbei das Protein OPA1. Wenn es fehlerhaft ist, können Mitochondrien die Energiegewinnung nicht mehr optimal anpassen. Wissenschaftlern der Saar-Universität ist es nun gemeinsam mit US-amerikanischen Kollegen gelungen, OPA1 unter dem Mikroskop in einer bis dato unerreichten Detailgenauigkeit zu beobachten.
Mit Hilfe der gewonnenen Informationen konnten sie erstmals den Wirkmechanismus von OPA1 in kultivierten menschlichen Zellen nachweisen. Diese bahnbrechenden Erkenntnisse wurden nun in Nature veröffentlicht.
„Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten.“ So hat es der chinesische General Sun Tsu vor gut zweieinhalbtausend Jahren in seiner „Kunst des Krieges“ aufgeschrieben. Und was für antike chinesische Schlachtfelder gilt, kann auch in der biomedizinischen Forschung zutreffen. Im Falle von Martin van der Laan, Professor für Medizinische Biochemie an der Universität des Saarlandes, und Alexander von der Malsburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes, sind die winzigen Feinde erblich bedingt defekte Versionen des Proteins OPA1. Es spielt in den Kraftwerken der Zellen, den Mitochondrien, eine zentrale Rolle bei der Optimierung des Energieumsatzes. Folglich kann eine Fehlfunktion von OPA1 gravierende Folgen haben. Denn wenn OPA1, kurz für „Optic Atrophy 1“, nicht richtig funktioniert, können schwere degenerative Krankheiten die Folge sein. Das betrifft in diesem Fall insbesondere den Sehnerv, so dass viele Patienten mit einer OPA1-Degeneration erblinden.
Bisher war es kaum möglich, den winzigen Feinden in Gestalt der fehlerhaften OPA1-Proteine wirksam auf die Pelle zu rücken, weil die Funktionsweise selbst von gesundem OPA1 nur bruchstückhaft bekannt war. Einzelne Proteine, die naturgemäß noch viel kleiner sind als die winzigen Kompartimente der Zellen, in denen sie aktiv sind, können nicht so einfach beobachtet werden. Vor kurzem konnten Forscher der University of California mit Hilfe der hochauflösenden Kryoelektronenmikroskopie erste Bilder von OPA1 erzeugen. Diese legten sie Professor van der Laan und seinem Team vor; die Arbeitsgruppe genießt weltweit hohes Ansehen auf dem Gebiet der Mitochondrienforschung. Eine exakte Analyse der Aufnahmen gab erste Hinweise auf einen möglichen Wirkmechanismus von OPA1. Für den entscheidenden Durchbruch sorgte schließlich Alexander von der Malsburg, dem es gelang, das weltweite erste zelluläre System zur Untersuchung der Funktionsweise von menschlichem OPA1 zu etablieren. Mithilfe seiner „äußerst cleveren und eleganten Lösung des Problems“ (so das Lob von Martin van der Laan) und den daraus gewonnenen Erkenntnissen ist das Team nun im Olymp des wissenschaftlichen Publizierens, in Nature, angekommen.
Bisher war OPA1 für Wissenschaftler ein „schwieriges Protein“, weil es in verschiedenen Formen vorkommt und sich hoch dynamisch verhält. Lediglich in speziellen Mauszellen, die aus embryonalen Stammzellen aufwändig erzeugt werden mussten, konnten bis dato einige Aspekte der Funktion von OPA1 aufgeklärt werden. Doch vieles blieb widersprüchlich oder sogar gänzlich im Dunkeln. Durch eine geschickte Kombination und Weiterentwicklung genetischer und biochemischer Methoden ist Alexander von der Malsburg das Kunststück gelungen, das menschliche OPA1-Protein zu bändigen und einer präzisen Untersuchung zugänglich zu machen. Damit hat er eine „technisch extrem anspruchsvolle“ Aufgabe bravourös gemeistert, wie Martin van der Laan anerkennt bemerkt.
Das OPA1-Protein ist für die Effizienz der Energiegewinnung in den Mitochondrien unserer Zellen und damit für deren Leistungsfähigkeit von besonderer Bedeutung. Es sorgt dafür, dass gesunde Mitochondrien miteinander fusionieren und ihre Kräfte bündeln, während fehlerhaft arbeitende Mitochondrien aussortiert werden. Um diese Fusion in Gang zu bringen, setzt OPA1 an der inneren Membran der Mitochondrien an und öffnet diese kontrolliert und lokal begrenzt. Wenn benachbarte Mitochondrien ebenfalls auf diese Weise modifiziert sind, können sie miteinander verschmelzen, was zu einer ständigen Optimierung der zellulären Kraftwerke führt. Gelingt dieser Vorgang allerdings nicht reibungslos, weil zum Beispiel ein genetischer Fehler dazu führt, dass OPA1 fehlerhaft hergestellt wird, drohen akute Energiekrisen und, mit fortschreitendem Alter, schwere degenerative Erkrankungen. „Von diesen Degenerationen gibt es Dutzende Varianten“, weiß Martin van der Laan. Daher könnte eine genaue Kenntnis der Wirkungsweise von OPA1 und einer experimentellen Simulation seiner Fehlfunktionen perspektivisch zahlreichen Patientinnen und Patienten helfen.
Wie also funktioniert OPA1? „Gemeinsam mit unseren amerikanischen Partnern haben wir haben herausgefunden, dass sich OPA1 wie ein Fuß mit einer ‚zehenartigen‘ Struktur in der inneren Membran festkrallt und anschließend die ‚Ferse‘ anhebt“, so Alexander von der Malsburg. So zieht es ein Stück aus der Membranhülle heraus, ähnlich wie der Korkenzieher-Hebel beim Öffnen der Weinflasche den Korken anhebt. Der Nachweis, dass dieser Mechanismus entscheidend ist für die Funktion von OPA1, gelang schließlich durch die Manipulation des Gens, auf welchem der Bauplan für OPA1 liegt. Das Forscherteam schmuggelte veränderte Baupläne in gesunde menschliche Zellen ein, so dass diese begannen, statt des gesunden OPA1 schadhafte Varianten herzustellen. „Nach einer gewissen Zeit konnten wir beobachten, dass die Energieversorgung der Zellen gestört war und die Fusion der Mitochondrien nicht mehr funktionierte“, erläutert Alexander von der Malsburg die Folgen. Unter dem Mikroskop wurde offenbar: „Die ‚Zehen‘ von OPA1 fehlten bei der genetisch manipulierten Version vollständig“, so der Wissenschaftler. Somit war das manipulierte OPA1 zum Feind geworden: Es konnte die Membranen nicht mehr öffnen und verhinderte somit die Fusion der Mitochondrien.
„Das ist ein fundamentaler Mechanismus, der zahlreiche Varianten der Degeneration von OPA1 betrifft“, ordnet Professor Martin van der Laan die Entdeckung ein. „Nun kann man sich all diese Varianten einzeln anschauen.“ Die neuen Erkenntnisse könnten ein wichtiger Schritt sein auf dem Weg zu einer maßgeschneiderten Therapie für Patienten, die aufgrund eines Funktionsverlustes von OPA1 erkranken. Schon jetzt kann man diese genetisch untersuchen und feststellen, welcher der vielen bekannten OPA1-Fehler bei ihnen vorliegt. „Wir hoffen, dass in Zukunft die Behandlung der Patienten gezielt auf den konkret vorliegenden Defekt ausgerichtet werden kann, weil wir das OPA1-Protein nun besser verstehen“, fasst Martin van der Laan die Tragweite der Arbeit zusammen.
Alexander von der Malsburg und Martin van der Laan ist es also gelungen, den verborgenen Feind im OPA1 ins Visier zu nehmen und ihn genauer kennenzulernen. Es bleibt zu hoffen, dass die beiden sich selbst ebenso genau kennen. Dann können sie, um bei Sun Tsu zu bleiben, den nächsten hundert Schlachten mit den fehlerhaften Versionen des Proteins gelassen entgegensehen.
Originalpublikation:
von der Malsburg, A., Sapp, G.M., Zuccaro, K.E. et al. Structural mechanism of mitochondrial membrane remodelling by human OPA1. Nature 620, 1101–1108 (2023). https://doi.org/10.1038/s41586-023-06441-6