„Die Pandemie von Übergewicht und Diabetes stoppen“
Heinrich-Wieland-Preis für Matthias Tschöp: Durchbruch im Kampf gegen Übergewicht und Diabetes
Immer mehr Menschen weltweit sind von Übergewicht betroffen. Oftmals folgen darauf Diabetes, schwere Herzkreislauferkrankungen und viele andere Komplikationen. Um diese globale Gesundheitskrise zu bekämpfen, benötigen wir effektive Medikamente: Prof. Matthias Tschöp von Helmholtz Munich und der Technischen Universität München (TUM), ein Pionier auf diesem Gebiet, hat die zentralen Mechanismen der Gewichtsregulierung entschlüsselt und Medikamente entwickelt, die Übergewicht und dessen Folgen effektiver denn je behandeln bzw. vorbeugen können. Für seine bahnbrechende Arbeit erhält er am 19.10.23 in München den mit 100.000 Euro dotierten Heinrich-Wieland-Preis der Boehringer Ingelheim Stiftung.
„Wir sind überzeugt, dass die neuen Multi-Rezeptor-Medikamente ein gewaltiges Potenzial haben, die Pandemie von Übergewicht und Typ-2-Diabetes zu stoppen“, sagt Preisträger Prof. Matthias Tschöp, wissenschaftlicher Geschäftsführer von Helmholtz Munich und Humboldt-Professor an der Technischen Universität München (TUM).
Übergewicht und Adipositas zählen in Europa zu den führenden Ursachen für Sterblichkeit und Behinderung. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2022 festgestellt, dass in Europa rund 60 % aller Erwachsenen und nahezu jedes dritte Kind übergewichtig oder sogar adipös sind. Adipositas, und eine ihrer häufigsten Begleiterkrankungen, Typ-2-Diabetes, verursachen bei immer mehr Menschen Leid. Der weltweite Trend zu zunehmendem Übergewicht scheint unaufhaltsam zu sein. „Schätzungen zufolge sind allein in Europa 1,2 Millionen Todesfälle auf Übergewicht und Adipositas zurückzuführen: Das ist jeder achte Todesfall. Bisher hatten wir keine Therapie, die diese beiden Erkrankungen aufhalten oder rückgängig machen könnte“, sagt Prof. Franz-Ulrich Hartl, der Vorsitzende des Auswahlkomitees für den Heinrich-Wieland-Preis zur Bedeutung der Arbeiten des Preisträgers. Der Vorstandsvorsitzende der Boehringer Ingelheim Stiftung, Christoph Boehringer, ergänzt: „Wir sind optimistisch, dass die von Professor Matthias Tschöp entwickelte Medikamentenklasse einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, ein weltweit immer gravierenderes Gesundheitsproblem zu lösen. Wir sind daher erfreut, ihm den Heinrich-Wieland-Preis 2023 zu verleihen.“
Der Wissenschaftler und Arzt Matthias Tschöp hat in der Adipositas- und Diabetesforschung eine beeindruckende Erfolgsbilanz vorzuweisen. Neben seiner wegweisenden Entdeckung des Hungerhormons Ghrelin im Jahr 2000 arbeitete er eng mit seinem langjährigen Forschungspartner, dem Chemiker Richard DiMarchi, zusammen. Gemeinsam legten sie den Grundstein für eine völlig neue Wirkstoffklasse der Zwei- und Dreifach-Darmhormon-Medikamente bekannt als „Polyagonisten“.
Die Entdeckung der Polyagonisten: Vision einer nachhaltigen Therapie
Matthias Tschöp war als junger Arzt mit einer frustrierenden Realität konfrontiert. Viele Patientinnen und Patienten litten unter Fettleibigkeit, und keines der verfügbaren Medikamente verbesserte ihren Zustand nachhaltig. Trotz intensiver Beratung und Betreuung führte ein gesünderer Lebensstil bei einigen zwar zu kurzfristigen Erfolgen, jedoch kehrte die Fettleibigkeit fast immer zurück – oft sogar stärker als zu Beginn. Die Magenbypass-Operation, eine hochinvasive und nicht umkehrbare Prozedur mit erheblichen Risiken, blieb die einzige verfügbare Option, sogar für Kinder und Jugendliche. „Unsere Vision war es daher, sichere Wirkstoffe zu entdecken, die Fettleibigkeit genauso gut bekämpfen wie Magen-bypass-Operationen. Wir wollten nicht nur bestehende Behandlungsoptionen verbessern, sondern einen völlig neuen Weg gehen: eine erfolgreiche Therapie gegen das globale Problem der Adipositas finden und so auch die Neuentstehung von Typ-2-Diabetes möglichst weitgehend verhindern“, sagt Tschöp.
„Adipositas ist eine Erkrankung im Gehirn!“
Ein erster Schritt, diese Version zu verwirklichen, lag in der frühzeitigen Erkenntnis, dass der starke Drang zu essen und der körpereigene Mechanismus Kalorien zu speichern nicht nur über einen einzelnen Signalweg behandelt werden kann. Zudem haben die Wissenschaftler herausgefunden, wo die Schlüsselhormone zur Regulierung des Körpergewichts wirken: „Adipositas ist eine Erkrankung im Gehirn! Diese Erkenntnis war neu und hat uns in die richtige Richtung gelenkt“, erklärt Tschöp. Die Forscher hatten sich nun zum Ziel gesetzt, einen Wirkstoff zu finden, der nicht nur einen, sondern mehrere der beteiligten Signalwege im Gehirn gleichzeitig ansteuern kann. Es folgte jahrelange Forschung, bis sie schließlich drei geeignete Hormone, die im Darm selbst gebildet werden, entdeckten: Glukagon, GLP-1 und GIP. Um diese im menschlichen Körper einzusetzen, mussten die drei Hormone chemisch miteinander zu einem einzigen Wirkstoffmolekül verbunden werden: Dazu wählten die Forschenden gezielt bestimmte Aminosäuren aus den metabolisch aktiven Darmhormonen aus und veränderten die entstandene Verbindung bis sie haltbar, stabil und löslich genug war, um im Körper eingesetzt zu werden. Das Ergebnis war eine neue Klasse von Therapeutika mit einer beispiellosen Wirkung auf den gesamten Stoffwechsel adipöser Patientinnen und Patienten und einem beachtlichen Gewichtsverlust. Die neuen Multi-Rezeptor-Medikamente sorgen derzeit weltweit mit ihrer Erfolgsbilanz für Aufsehen.
Im vergangenen Jahr erhielten die ersten Polyagonisten ihre Medikamentenzulassung in den USA und derzeit befinden sich mehr als zehn weitere in klinischen Studien. Dies deutet auf den Beginn einer neuen Ära in der Stoffwechselmedizin hin. Sie zeigen ähnliche Therapieerfolge wie eine Magenbypass-Operation – aber ohne die Risiken eines invasiven Eingriffs. Erstmals besteht die Möglichkeit, Volkskrankheiten wie Übergewicht und Adipositas umfassend zu behandeln und damit auch das Risiko für Diabetes deutlich zu reduzieren.
Die nächste Generation personalisierter Medikamente
Doch für Preisträger Tschöp ist das nicht genug. Er möchte herausfinden, wie man die Behandlung mit den Multi-Rezeptor-Medikamenten nach entsprechendem Gewichtsverlust beenden kann und die betroffenen Menschen trotzdem einen gesunden Stoffwechsel beibehalten und nicht wieder zunehmen. Gleichzeitig hat er schon eine neue Vision vor Augen: die nächste Generation von Stoffwechselmedikamenten zu erforschen: „Wir wollen eine noch präzisere Medizin für metabolische Erkrankungen. Mit den Polyagonisten haben wir begonnen, die nächste Generation personalisierter Medikamente zu entwickeln.“, so Tschöp.
Er hat mit seinen vielfältigen Entdeckungen maßgeblich zu den Fortschritten in der Adipositasforschung und Versorgung der damit verbundenen Folgeerkrankungen wie z.B. Diabetes beigetragen. So war es möglich, den Weg für eine effektivere Bewältigung dieser Krankheit und ihren schwerwiegenden Folgen zu ebnen. Tschöp und sein Team setzen sich kontinuierlich für innovative Lösungen ein und tragen dazu bei, den Kampf gegen Diabetes auf eine völlig neue Ebene zu heben.
Damit erfüllt Matthias Tschöp in überragender Weise die Kriterien für den Heinrich-Wieland-Preis der Boehringer Ingelheim Stiftung: Der Preis ehrt weltweit herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre bahnbrechende Forschung zur Chemie, Biochemie und Physiologie biologisch aktiver Moleküle und Systeme sowie deren klinische Bedeutung. Die festliche Preisübergabe erfolgt am Abend des 19. Oktober im Münchner Künstlerhaus im Anschluss an ein wissenschaftliches Symposium mit hochkarätigen Vorträgen über Stoffwechsel und Adipositas.
“Die Verleihung des Heinrich-Wieland-Preises 2023 ist eine große Ehre und zugleich eine schöne Anerkennung für die jahrelange harte Arbeit des gesamten Teams.“, sagt Tschöp. „Die Auszeichnung zeigt, dass bahnbrechende Entdeckungen, der jahrzehntelange herausragende Grundlagenforschung vorausgehen, die Medizin und die Gesellschaft nachhaltig verbessern können. Sie verdeutlicht, wie wichtig es ist, konsequent weiter an medizinischen Innovationen zu forschen, dranzubleiben und die Zukunft der Gesundheitsversorgung aktiv zu gestalten. Denn nur so können wir die Lebensqualität der Menschen erhalten und die großen Herausforderungen der Zukunft bewältigen.“
Heinrich-Wieland-Preis – die Auszeichnung
Der internationale Heinrich-Wieland-Preis honoriert internationale Spitzenforschung zu biologisch aktiven Substanzen und Systemen in den Bereichen Chemie, Biochemie und Physiologie sowie ihrer klinischen Bedeutung. Der Preis ist nach dem deutschen Nobelpreisträger Heinrich Otto Wieland (1877–1957) benannt und wird seit 1964 jährlich vergeben. Ein wissenschaftliches Kuratorium wählt die Preisträgerinnen und Preisträger aus, von denen fünf später den Nobelpreis erhielten. Seit 2011 dotiert die Boehringer Ingelheim Stiftung (BIS) den Preis mit inzwischen 100.000 Euro. www.boehringer-ingelheim-stiftung.de/wissenschaftspreise/heinrich-wieland-preis.html