Studie zu Training der visuellen Wahrnehmung: Neue Methode könnte helfen, schneller zu genesen
Forschende der Humboldt-Universität und der Ludwig-Maximilians-Universität München entwickeln innovatives Wahrnehmungstraining für Patienten mit Seheinschränkungen
Berlin, den 20. November 2023. Wahrnehmungstraining wird gezielt in der Rehabilitation eingesetzt, um beispielsweise nach einem Unfall, bei einer degenerativen Erkrankung oder nach einem Schlaganfall Wahrnehmungsdefizite im Sehvermögen bei Patient:innen auszugleichen.
Forschende der Humboldt Universität zu Berlin (HU) und der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) haben herausgefunden, wie sich heute übliche visuelle Wahrnehmungstrainings durch die Einbeziehung der Augenbewegungen verbessern lassen. Die Studie wurde mit gesunden Proband:innen durchgeführt, denn auch ohne akute Defizite kann sich jede:r in Wahrnehmungsaufgaben verbessern. Die Ergebnisse legen jedoch nahe, dass die neue Methode auch für Patient:innen mit Seheinschränkungen angewendet werden kann, damit diese schneller und wirksamer genesen. Sie haben damit eine Methode entdeckt, wie man die Vorteile des neuen visuellen Trainings auf große Bereiche des Gesichtsfelds ausweiten kann.
Die Forschungsergebnisse sind kürzlich in der Zeitschrift Proceedings der National Academy of Sciences (PNAS) erschienen. An der Studie beteiligt waren die Psychologen und Neurowissenschaftler Dr. Lukasz Grzeczkowski (HU), Prof. Zhuanghua Shi (LMU), Prof. Martin Rolfs (HU) und Prof. Heiner Deubel (LMU).
Wahrnehmungsfähigkeit erweitert sich auch auf nicht trainierte Teile des Gesichtsfeldes
Die traditionellen Trainingsmethoden verbessern die visuelle Wahrnehmung nur in dem Bereich des Gesichtsfelds, in dem die Patient:innen ihr Sehvermögen trainiert haben. So müssen sie mühsam verschiedene Teile des Gesichtsfelds einzeln trainieren. Das ist notwendig, weil das visuelle System des Gehirns die Welt räumlich geordnet verarbeitet – Neuronen, die zwei nahe gelegene Orte im Gesichtsfeld verarbeiten, befinden sich auch im Gehirn räumlich eng beieinander. Daher führt ein visuelles Training in der Regel zur Plastizität einer kleinen Gruppe von Neuronen, die einen ganz bestimmten Ort kodieren. In der Praxis blicken die Patient:innen zum Beispiel auf einen festen Punkt an einem Bildschirm, während im Augenwinkel an der zu trainierenden Stelle des Gesichtsfeldes Reize präsentiert werden, die sie erkennen sollen.
Mit der neuen Methode werden so wie bisher auch visuelle Reize im Gesichtsfeld gezeigt. Zusätzlich erkundeten die Teilnehmenden der Studie die visuellen Reize aber aktiv durch die Bewegung ihrer Augen. Ihr Blick bewegte sich dabei in sogenannten Sakkaden, die sehr schnell — in etwa 40 Millisekunden — ihr Ziel erreichen. Als Ergebnis der Einbeziehung von Blickbewegungen verbesserte sich nicht nur ihre Wahrnehmungsfähigkeit im Bereich, auf den sie blickten, sondern erweiterte sich auch auf nicht trainierte Teile ihres Gesichtsfelds.
Die Erkenntnisse legen nahe, dass bei diesen Blickbewegungen auf völlig andere Gehirnmechanismen zugegriffen wird als bei den bisher angewendeten Methoden des Wahrnehmungslernens. Die Auswirkungen sind erheblich, insbesondere für Programme zur visuellen Rehabilitation, die dadurch effektiver, weniger umständlich und schneller abzuschließen sind.
Weitere Informationen
Studie Grzeczkowski, L., Shi, Z., Rolfs, M., & Deubel, H. (2023). Perceptual learning across saccades: Feature but not location specific. Proceedings of the National Academy of Sciences, 120(43), e2303763120. Link zum Artikel in PNAS