Österreich ist in Europa zum Hotspot der Masernerkrankungen avanciert. Dabei könnte mit entsprechend hohen Durchimpfungsraten das Masernvirus ausgerottet werden. Woher die hohe Impfskepsis hierzulande kommt und wie man ihr beikommen könnte, darüber spricht Daniela Angetter-Pfeiffer, Medizinhistorikerin am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Die Rückkehr der Masern
Die Masern galten durch die Impfung in unseren Breiten nahezu als ausgerottet. Jetzt sind sie wieder im Kommen, vor allem in Österreich. Was sind die Masern eigentlich?
Daniela Angetter-Pfeiffer: Die Masern sind eine schwere Viruserkrankung, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird. Sie sind extrem ansteckend. Der einzige Schutz gegen Masern ist die Impfung. Denn es gibt keine Therapie und man kann nur die Symptome medikamentös behandeln.
Warum sind die Masern wieder am Vormarsch?
Angetter-Pfeiffer: Die Masernimpfung wurde ab den 1960er Jahren sehr wirksam eingesetzt. Lange Zeit gab es in Europa fast gar keine Masernfälle mehr. Aber: Wenn sich viele Menschen in der Bevölkerung nicht mehr impfen lassen, lässt diese Immunität nach. Und damit steigt die Zahl der Masernfälle in Österreich wieder. Warum das ein Problem ist? Masern können nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern lebensbedrohliche Schädigungen, v.a. durch Gehirnentzündungen, hervorrufen. Dass die Impfung Leben rettet, das ist unbestritten. Die WHO hat 2019 die Impfskepsis in die Liste der zehn größten Gefahren für die globale Gesundheit aufgenommen.
Österreich gehört neben Rumänien und Liechtenstein zu den EU-Schlusslichtern, was die Impfung gegen Masern betrifft. Ist hierzulande die Skepsis gegen Impfungen so alt wie die Impfung selbst?
Angetter-Pfeiffer: In Österreich hat die Impfskepsis eine lange Tradition. Denken wir an die Einführung der Pockenimpfung, die schon um 1800 viele Gegner auf den Plan rief. Prominenter Vertreter war damals Andreas Hofer, der meinte, durch die Pockenimpfung, würde einem der Protestantismus eingeimpft. Oder die Lebensreformbewegungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Anhängern der Naturheilkunde, Vegetariern und Vivisektionsgegnern. Sie boten einen Gegenpol zur Industrialisierung und waren in Österreich, Deutschland und der Schweiz besonders stark vertreten. In dieser Zeit gab es etwa die Zeitschrift der Impfgegner. Schon damals wurden zwei große Gruppen gebildet, nämlich die, die sich impfen haben lassen und die, die dagegen polemisierten.
Impfskepsis unter den Nazis
Auch unter den Nationalsozialisten gab es viele Anhänger der Naturheilkunde. Ein Grund warum die Nazis Impfungen eher ablehnten?
Angetter-Pfeiffer: Die Nationalsozialisten hielten vieles, was von Seiten der universitären Medizin kam, als jüdische Erfindung. Sie machten sich gegen die Impfung und für Naturheilverfahren stark. Im KZ Dachau hat es beispielsweise eigene Kräutergärten gegeben, wo auch KZ-Häftlinge arbeiten mussten.
Und welche Rolle spielte die Religion?
Angetter-Pfeiffer: Die Gründe für Impfskepsis sind unterschiedlich, darunter auch stark religiös motivierte. Die Impfung wurde von manchen als ein Eingriff in den Körper und damit nicht gottgewollt gesehen. Der Glaube war: Krankheit ist eine Strafe Gottes und wenn man krank ist, dann soll man einen anderen Lebensweg zu bestreiten. Ein weiterer Grund: Zu wenig Wissen. Schon zu Beginn der Pockenimpfung hat man versucht Aufklärung zu betreiben mit Hebammen, Ärzten oder durch Pfarrer, die es von der Kanzel predigten.
Ein anderer Grund: Angst vor Nebenwirkungen, die es natürlich auch bei Impfungen gegeben hat. Aber mit Blick auf die Beipackzettel von Medikamenten gibt es die eben überall.
Impfskeptiker:innen gibt es nicht erst seit Corona. Aber inwiefern hat die Pandemie die ablehnende Haltung noch verstärkt?
Angetter-Pfeiffer: Impfskepsis gab es immer, aber durch die sozialen Netzwerke finden Verschwörungen heute viel schneller Verbreitung. Ein Problem in der Zeit der Corona-Pandemie war, dass die Argumentationsstrategie sehr unglücklich verlief. Man hätte die Bevölkerung mehr aufklären müssen und weniger mit einer Impfpflicht argumentieren sollen. Diese hat die Ablehnung sogar noch verstärkt.
Impfskepsis kann auch politischen Protest, Misstrauen gegenüber Eliten und Expert:innen oder auch Kritik an Pharmaunternehmen, denen ein Geschäft mit der Krankheit unterstellt wird, ausdrücken.
Wir müssen unterscheiden zwischen den überzeugten Gegner:innen, an die wir mit aller Aufklärung nicht herankommen werden, und denen, die unsicher sind.
Erinnern an Impftermine
Wie könnte man die Unsicheren erreichen?
Angetter-Pfeiffer: Indem wir mehr auf Aufklärung setzen, etwa standardisiert bei Vorsorgeuntersuchungen, aber auch in der Apotheke. Es braucht interdisziplinäre Teams, die über die lebensrettende Wirkung von Impfungen sprechen, das können Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und auch die Vertreter:innen der verschiedenen Konfessionen sein. Förderlich ist es auch konkrete Termine in Betrieben anzubieten, um den Mitarbeiter:innen Impfungen und Auffrischungen niederschwellig zu ermöglichen.
Und: Wir müssen die Menschen an ihre Impftermine erinnern. Viele denken ja gar nicht daran, dass sie die eine oder andere Impfung auffrischen müssen. Beispiel Tetanus: Der Impfschutz wirkt mindestens zehn Jahre lang, danach braucht es eine Auffrischung. Aber das Virus lebt überall und wenn Tetanus ausbricht, ist es in rund einem Drittel aller Fälle tödlich.
Auf einen Blick
Daniela Angetter ist Historikerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) tätig. Zudem ist sie Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der ÖAW. Ihr aktuelles Buch „Als die Dummheit die Forschung erschlug“ wurde mit dem Preis „Wissenschaftsbuch des Jahres 2024“ ausgezeichnet.