Im Gleichgewicht: Wie das Gehirn seine Sensitivität justiert
Eine sensitive Wahrnehmung unserer Umwelt ist essenziell, um unser Verhalten zu steuern. Reagieren die neuronalen Netzwerke im Gehirn jedoch zu empfindlich auf Reize, führt dies zu neurologischen Störungen wie Epilepsie. Forschende der Universität Basel berichten im Fachjournal «Nature», wie die Nervennetzwerke im Gehirn von Mäusen richtig justiert werden.
Im Alltag werden wir ständig mit unterschiedlichen Sinneseindrücken konfrontiert, wie etwa lauten und zugleich auch sehr leisen Geräuschen. Um dieses Spektrum an Informationen bestmöglich zu verarbeiten, muss das Gehirn eine Balance finden, wie stark es auf welche Reize reagiert. Wenn es zu sensibel reagiert, werden die Nervenzellen übermässig stark aktiviert. Die Folge sind epileptische Anfälle. Ist es andererseits nicht empfindlich genug, nimmt es Reize kaum wahr.
Wie schafft es also das Gehirn, sowohl hochsensitiv zu sein und gleichzeitig eine Überaktivierung zu verhindern? «Wichtig ist, dass sich Anregung und Hemmung der Aktivität die Waage halten», erklärt Prof. Dr. Peter Scheiffele vom Biozentrum der Universität Basel. «Im Mausmodell haben wir nun entdeckt, wie dieses Gleichgewicht aufrechterhalten wird, um eine stabile und optimale Leistungsfähigkeit des Gehirns zu gewährleisten.» Im Fokus der Studie stand der Neocortex, ein Gehirnareal, das für unsere Wahrnehmungen und auch komplexer Funktionen wie Lernen zuständig ist.
Unser Gehirn besteht aus Milliarden von Nervenzellen, die über sogenannte Synapsen miteinander kommunizieren und Sinneswahrnehmungen wie Hören, Tasten und Sehen übertragen. Während anregende Neuronen Reize weiterleiten und integrieren, steuern hemmende Neuronen die zeitliche Abfolge und Stärke des Informationsflusses. Dieses interne Kontrollsystem stellt sicher, dass das Nervensystem präzise und angemessen auf Reize reagiert.
Netzwerk-Überaktivierung und Epilepsie
Neuronen können eine übermässige Aktivierung erkennen und daraufhin die Reizempfindlichkeit des Systems herabsetzen. Doch wie die Zellen auf molekularer Ebene instruiert werden, war bislang unklar. «Wir haben herausgefunden, dass anregende Neuronen ein Protein namens BMP2 ausschütten, wenn sie selbst stark aktiv sind», sagt Erstautorin Dr. Zeynep Okur. «BMP2 wirkt direkt auf die hemmenden Nervenzellen und schaltet dort ein Genprogramm an, das zur Bildung neuer Synapsen führt.» Diese zusätzlichen Synapsen verstärken den Einfluss der hemmenden Nervenzellen und senken die Aktivität des neuronalen Netzwerkes.
Durch diesen Mechanismus wird die Sensitivität von Nervennetzwerken justiert. Er verhindert eine übermässige Aktivierung und damit überschiessende Reaktionen auf Stimuli. «Wenn wir das BMP2-abhängige Genprogramm in den hemmenden Neuronen ausschalten, bekommen die Mäuse epileptische Anfälle, allerdings erst, wenn sie älter sind», erklärt Okur. Der Prozess bewirkt daher längerfristige Anpassungen des Gehirns.
Neue Therapieansätze für neurologischen Störungen
Der BMP2-Signalweg ist an sich gut erforscht: In der frühen Entwicklungsphase des Gehirns ist er an der Entstehung bestimmter Nervenzelltypen beteiligt. «Wir konnten zeigen, dass der Signalweg im reifen Gehirn umfunktioniert wird», betont Scheiffele. «Hier übernimmt er mit der Stabilisierung neuronaler Schaltkreise eine komplett neue Aufgabe.» Für die Plastizität des Gehirns im Alter – für Lernen und Gedächtnis – spielt das eine wichtige Rolle.
«Wir verstehen nun auf molekularer Ebene, wie neuronale Netzwerke Erregung und Hemmung ausbalancieren, um das Optimum zu finden», resümiert Scheiffele. «Und wir erweitern das Repertoire an Möglichkeiten, Epilepsie und andere neurologische Störungen zu behandeln.» Mit gezielten Eingriffen in den BMP2-Signalweg könnte die Sensitivität des Gehirns besser eingestellt werden.
Originalpublikation
Zeynep Okur, Nadia Schlauri, Vassilis Bitsikas, Myrto Panopoulou, Raul Ortiz, Michaela Schwaiger, Kajari Karmakar, Dietmar Schreiner, Peter Scheiffele.
Control of neuronal excitation – inhibition balance by BMP-SMAD1 signaling.
Nature (2024), doi: 10.1038/s41586-024-07317-z
Weitere Informationen
Forschungsgruppe Prof. Dr. Peter Scheiffele