Blut aus Aderlassen könnte Transfusionsmangel im Andenraum beheben
Blutkonserven sind oft Mangelware. In der Andenregion könnte nun eine Erkenntnis eines Forschungsteams, dem auch der Biophysiker Lars Kaestner angehörte, dazu beitragen, dieses Problem zu lindern. Denn in hochgelegenen Siedlungen wird Blut aus Aderlassen, die gegen die Höhenkrankheit durchgeführt werden, bislang entsorgt. Dabei könnte es durchaus weiterverwendet werden, so das Fazit von Lars Kaestner und seinen Kollegen im Fachmagazin ‚American Journal of Hematology‘.
Viele Alpinisten kennen das Problem: Kaum ist man im ersehnten Bergurlaub angekommen, dröhnt der Schädel, Übelkeit breitet sich aus, Schwindel verwirrt die Sinne. Klassische Symptome der Höhenkrankheit, die im besten Fall den Urlaubsbeginn eintrüben können und nach einigen Stunden wieder verschwinden, wenn sich der Körper an die geringere Sauerstoffversorgung gewöhnt hat. Im schlimmsten Fall können aber schwerwiegende gesundheitliche Folgen bis hin zum Hirn- oder Lungenödem die Folge sein, an denen man sogar sterben kann.
Was für Urlauber in den meisten Fällen eine unangenehme Begleiterscheinung ist, kann für Menschen, die in großer Höhe zuhause sind, eine lebenslange Belastung sein. So müssen auch die Bewohner der höchstgelegenen Siedlung der Welt La Rinconada in den peruanischen Anden mit der Höhenkrankheit arrangieren. Trotz der Tatsache, dass die einheimischen Familien meist seit vielen Generationen auf 5100 Metern Höhe leben, haben sich ihre Körper noch lange nicht an diese extremen Umstände gewöhnt. „Im Rahmen einer Expedition haben wir unter anderem rund 60 Menschen untersucht, die in La Rinconada zuhause sind. Knapp die Hälfte davon leidet unter der chronischen Höhenkrankheit“, lautet die Feststellung von Lars Kaestner.
Der Biophysiker und Spezialist für die Biologie und Physik von Blutzellen hat die Zusammensetzung des Blutes der Peruaner genauer untersucht und festgestellt, dass der Hämatokrit-Wert des Blutes, der den Anteil fester Bestandteile des Blutes wiedergibt, zwischen 70 und 80 Prozent lag. „Normal sind Werte um 45 Prozent“, erläutert der Fachmann. Das Blut ist also sehr viel zähflüssiger als bei Menschen, die in normaler Höhe leben. Das liegt vor allem an der deutlich höheren Zahl an Erythrozyten. Die roten Blutzellen sind für den Transport des Sauerstoffs im Körper verantwortlich. Der Körper versucht so, die Sauerstoffversorgung im Körper aufrechtzuerhalten.
„Überraschenderweise kommen aber dennoch nicht mehr thrombotische Ereignisse bei diesen Menschen vor als im Vergleich zu anderen Menschen“, so Lars Kaestner weiter. Trotz der Zähflüssigkeit verklumpt das Blut nicht derart, dass lebensbedrohliche Thromben durch die Blutbahn kreisen. Dennoch leiden die Bewohner von La Rinconada an den unangenehmen Symptomen der Höhenkrankheit. Wegziehen ist für sie meist keine Option, da sie ihren Lebensunterhalt in der Bergbau-Stadt verdienen.
Wie also behelfen sich die Höhenkranken? „Es werden viele Aderlasse gemacht“, erklärt Lars Kaestner. Was an mittelalterlichen Hokuspokus erinnert, ist demnach eine wirkungsvolle Therapie. „Ein Aderlass führt zu deutlicher Linderung der Symptome. Der Körper reagiert danach aber mit einem ‚Overshoot‘, er produziert danach also umso mehr Erythrozyten.“ Die Krankheit wird also nur kurzzeitig gelindert, um danach immer und immer wieder zurückzukehren.
Ein Aderlass ist also ein probates Mittel, um den Bewohnern regelmäßig und mit geringem medizinischen Aufwand Linderung zu verschaffen. Dabei werden große Mengen Blut abgenommen. „Rund 450 bis 900 Milliliter Blut werden bei einem Aderlass entnommen“, so Lars Kaestner. Bislang wird dieses Blut entsorgt. „Unsere Erkenntnisse zeigen nun, dass die Blutkonserven durchaus medizinisch genutzt werden könnten“, schlussfolgert der Biophysiker. Schließlich deuten die Ergebnisse darauf hin, dass auch hohe Hämatokrit-Werte in den Blutkonserven aus Aderlassen kein Problem im gesundheitlichen Sinne darstellen und das Thromboserisiko erhöhen.
Relevant könnte diese Erkenntnis, die durch weitere Studien untermauert werden müsste, vor allem für die Andenregion sein, da hier die evolutionäre Anpassung an die große Höhe offenbar noch nicht weit genug fortgeschritten ist. Ob die Befunde auch für andere hochalpine Gegenden der Welt Gültigkeit haben, etwa für die Himalaya-Region, müsste jeweils noch überprüft werden. In der Andenregion jedenfalls könnte durch die gezielte Verwendung des Blutes aus Aderlassen die Transfusionsmedizin sehr entlastet werden.
Originalpublikation:
Stauffer, E., Pichon, A., Champigneulle, B., Furian, M., Hancco, I., Darras, A., Robach, P., Brugniaux, J.V., Nader, E., Connes, P., Verges, S., Kaestner, L. (2024) Making a virtue out of an evil: Are red blood cells from chronic mountain sickness patients eligible for transfusions? American Journal of Hematology, doi.org/10.1002/ajh.27317