Gesundes-Herz-Gesetz: Abgesang auf die evidenzbasierte Medizin

Der Referentenentwurf zum geplanten Gesetz zur Stärkung der Herzgesundheit („Gesundes-Herz-Gesetz“) wird seinem Titel nicht gerecht. Statt echter Prävention zielt der Entwurf vor allem auf nicht-evidenzbasierte Screening-Maßnahmen und verstärkte Medikalisierung ab. Die komplexe Aufgabe einer nachhaltig wirksamen Prävention bleibt unbearbeitet. Besonders problematisch ist außerdem, dass die Leistungsausweitung per Gesetz festgelegt und nicht wie bisher über den G-BA ermittelt werden soll. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) erhebt Einspruch.

Seit Mitte Juni liegt der Referentenentwurf für das „Gesunde-Herz-Gesetz“ (GHG) vor. Im Entwurf sind weitere Check-ups und Screenings sowie eine deutliche Ausweitung der medikamentösen Prävention vorgesehen. Wichtige Grundregeln der evidenzbasierten Medizin werden ausgehebelt. Seitdem reißen die kritischen Stimmen nicht ab. Auch die DEGAM lehnt die Pläne mit ihrer heute beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG) abgegebenen Stellungnahme klar ab.

„Dieses Gesetz ist in der geplanten Form ein Skandal“, kommentiert Prof. Martin Scherer, Präsident der DEGAM. „Die Grundlagen der evidenzbasierten Medizin, für die sich auch unsere Fachgesellschaft seit Jahrzehnten einsetzt, werden gleich doppelt ignoriert: Zum einen ist der Nutzen von allgemeinen Gesundheitsuntersuchungen, die ausgeweitet werden sollen, nach wie vor unklar. Zum anderen sollen Leistungen zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung – hier die Verordnung von Statinen aufgrund von gesetzlich festgelegten Risikoschwellen – nicht mehr auf Basis einer systematischen Bewertung der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegt werden. Stattdessen soll die Entscheidung zur Leistungsauswertung per Gesetz erfolgen. Aber was passiert zum Beispiel, wenn es neue Evidenz gibt? Oder was, wenn sich die politischen Machtverhältnisse ändern? Werden dann wieder andere Grenzwerte festgesetzt? Dieser Entwurf ist ein einziges Trauerspiel für die evidenzbasierte Medizin.“

In den Prozess der Gesetzesentwicklung hat sich die DEGAM seit Monaten im Rahmen von Anhörungen und Stellungahmen intensiv eingebracht. Nichts von dieser Expertise findet sich im Referentenentwurf wieder. Die DEGAM hat frühzeitig davor gewarnt, die Verhältnisprävention zu vernachlässigen. Dabei spielen Lebensstilfaktoren und damit die Primärprävention gerade bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen (KHK) eine entscheidende Rolle, was im Gesetzesentwurf auch einleitend festgestellt wird. Allerdings zieht das BMG die falschen Schlüsse. Denn statt wirksamer Angebote zur Primärprävention setzt das BMG auf mehr Früherkennung und auf eine Senkung der Lipidwerte, so dass Millionen Menschen mehr Medikamente nehmen werden.

„Für die Allgemeinmedizin gilt aber: Wir konzentrieren uns nicht nur auf die Lipide, sondern behandeln immer das Gesamtrisiko für ein kardiovaskuläres Ereignis“, so Martin Scherer weiter. Auch die Pläne zur Ausweitung der Früherkennung können bestenfalls als umstritten bezeichnet werden: Weder bei Kindern noch bei Erwachsenen gibt es für ein zusätzliches Screening eine klare Evidenz für den Nutzen. „Das Problem bei diesen Maßnahmen ist auch, dass sie die ohnehin knappen finanziellen und personellen Ressourcen binden, die dann für dringendere und effizientere Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Ein klassischer Fall von Über- und Fehlversorgung – und das, wo die primärärztlichen Praxen sowieso schon seit Jahren am Limit arbeiten“, macht Martin Scherer deutlich.

Für die DEGAM ist klar: Es wäre viel sinnvoller, die Anstrengungen auf die Verhältnisprävention zu richten. Obwohl schon lange bekannt ist, dass sozial Benachteiligte ein überdurchschnittlich hohes Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis (z.B. Herzinfarkt) haben, macht das BMG keine Vorschläge, wie gerade die Gruppen mit hohne Gesundheitsrisiken in ihren Lebenswelten unterstützt werden können. Ein wichtiger Baustein wären zum Beispiel Hausarztzentrierte Modelle, da in der hausärztlichen Praxis alle sozialen Gruppen zusammenkommen. Auch von diesem Aspekt findet sich im Gesetzesentwurf nichts.

„Deutschland muss in der Verhältnisprävention endlich aufholen. Länder, die stärker auf Public-Health-Konzepte setzen, machen uns schon lange vor, wie das aussehen kann: Besteuerung zuckerhaltiger Getränke, Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel und Tabak (Deutschland hat den höchsten Raucher-Anteil in Westeuropa!), mehr Hilfe beim Suchtentzug, verringerte Verfügbarkeit von hochprozentigem Alkohol, mehr Schul- und Breitensport, mehr Schwimmbäder, gesundes Kita- und Schulessen. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Natürlich kann das BMG diese komplexen Aufgaben nicht allein umsetzen, aber dieser Weg wäre definitiv der richtige“, so Martin Scherer abschließend.

Zur Stellungnahme der DEGAM zum Gesundes-Herz-Gesetz:

https://www.degam.de/files/inhalt/pdf/positionspapiere_stellungnahmen/positionspapier_neues_verzeichnis/20240709_sn_degam_ghg.pdf

 

Über die DEGAM

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) ist eine wissenschaftliche Fachgesellschaft. Ihre zentrale Aufgabe ist es, die Allgemeinmedizin als anerkannte wissenschaftliche Disziplin zu fördern und sie als Rückgrat der Patientenversorgung weiterzuentwickeln. Die DEGAM ist Ansprechpartnerin bei allen Fragen zur wissenschaftlichen Entwicklung der Allgemeinmedizin an den Hochschulen, zur Fort- und Weiterbildung sowie zum Qualitätsmanagement. Sie erarbeitet eigene wissenschaftlich fundierte Leitlinien für die hausärztliche Praxis und beteiligt sich auch an interdisziplinären Leitlinien anderer Fachgesellschaften. Die Aktivitäten der Nachwuchsförderung werden überwiegend von der Deutschen Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DESAM) realisiert.

http://www.degam.de