„Wir alle können mehr gegen Einsamkeit tun“

  • 17. Juli 2024

Prof. Dr. Çinur Ghaderi von der EvH Bochum diskutierte auf dem Jahrestreffen des Deutschen Ethikrates über Einsamkeit als gesellschaftliche Herausforderung. Besonders Frauen und junge Menschen sind betroffen.

In Deutschland fühlt sich ein Viertel der Bevölkerung einsam. Das zeigt das aktuelle Einsamkeitsbarometer 2024, das vor kurzem vom Bundesfamilienministerium vorgestellt wurde. Der Deutsche Ethikrat spricht sogar von einer „Einsamkeitsepidemie“. Darum machte er die zunehmende Vereinsamung zum Hauptthema seiner letzten Jahrestagung in Berlin. An dem fachlichen Austausch beteiligten sich Expert_innen aus ganz Deutschland, darunter auch Prof. Dr. Çinur Ghaderi von der Evangelischen Hochschule Bochum (EvH Bochum). Sie sagt: „Einsamkeit macht krank und kann gesundheitlich sogar gefährlicher sein als Rauchen, Alkohol oder Übergewicht. Aber wenn wir als Gesellschaft begreifen, wie wichtig das Thema ist, können wir alle mehr gegen Einsamkeit tun.“

Jung, weiblich, einsam

In ihrer täglichen Arbeit und Forschung an der EvH Bochum beschäftigt sich Prof. Ghaderi mit sozialen Gruppen, die verletzlicher sind als andere. „Dabei geht es vor allem um Menschen, die individuell nicht in der Lage sind oder strukturell in die Lage gebracht werden, Herausforderungen gut zu bewältigen, und daher unter Krisen besonders leiden. Natürlich auch unter Einsamkeit“, erklärt die Psychologin. Vor allem junge Menschen zwischen 19 und 22 geben an, ein Gefühl von Einsamkeit zu erleben. Allein in NRW ist es jede_r Fünfte. Damit gehören junge Menschen genauso zur Risikogruppe wie alleinstehende Senior_innen.“ Diese Wahrnehmung habe sich nach den Erfahrungen der Corona-Pandemie noch verstärkt – auch wenn die Tage der sozialen Abschottung im Lockdown längst vorbei sind.

Und es gibt auch einen „Gender Loneliness Gap“: Frauen sind auffallend häufiger von Einsamkeit betroffen als Männer, vor allem Alleinerziehende mit einem hohen Anteil an Care-Arbeit. „Wer sich ständig nur kümmert, hat neben Job und Familie keine Zeit für Freund_innen oder Vereine“, erklärt Prof. Ghaderi. Weitere Gruppen, die gefährdet sind, in der Einsamkeitsspirale zu landen, sind Menschen mit wenig Einkommen, queere Personen sowie Menschen mit Behinderungen oder mit Flucht- und Migrationshintergrund. „Sie erleben besonders oft soziale Zurückweisung oder Rassismus. Hierfür gibt es strukturelle Gründe, denn Einsamkeit kann man nicht individualisieren.“

Hinschauen hilft!

Diese Entwicklungen haben unmittelbaren Einfluss auf Politik und Gesellschaft, so die Expertin: „Neueste Studien zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen Einsamkeitsempfinden und der Einstellung zu Autoritäten gibt. Einsame Menschen haben eine geringere Verbundenheit zur Demokratie, sie fühlen sich unverstanden und zu wenig anerkannt. Das können wir als Gesamtgesellschaft nicht länger ignorieren.“

Dem traurigen Trend des Alleinseins will Prof. Ghaderi mit einem ganzheitlichen Ansatz entgegentreten: „Das Thema braucht mehr Beachtung in der Quartiersarbeit und Stadtplanung, in der Geschlechterpolitik, im Bildungssektor oder auf dem Arbeitsmarkt. Zusätzlich benötigen wir neue und mehr Informations- und Unterstützungsangebote, die für alle zugänglich sind. Digital und persönlich.“ Die Präventionsarbeit fängt im eigenen Umfeld an: „Einsame Menschen haben ein großes Bedürfnis, nicht unsichtbar zu sein, sondern wahrgenommen zu werden. Kleine Gespräche, Unterstützung im Alltag oder auch schon ein Lächeln können helfen, diese Aufmerksamkeit zu signalisieren. Hinschauen hilft! Und hier ist nicht die Politik allein in der Pflicht.“

Weitere Informationen:

http://Weitere Informationen von der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates inkl. Video zu Vortrag und Diskussion: https://www.ethikrat.org/jahrestagungen/einsamkeit/
http://Mehr Infos über den Zusammenhang zwischen Marginalisierung und Einsamkeit gibt es im Radiointerview mit Çinur Ghaderi von Radio 3 (rbb): https://www.radiodrei.de/programm/schema/sendungen/radio3_am_nachmittag/archiv/2…