„Vorgeschichte“ der Nervenerkrankung SMA könnte Chancen für bessere Behandlung bieten
Die Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine schwerwiegende Nervenerkrankung, für die es bislang keine Heilung gibt, wenngleich die derzeitigen Therapien die Symptome lindern können. Für die Suche nach besseren Behandlungsmöglichkeiten lenken Forschende des DZNE und der Technischen Universität Dresden nun den Blick auf bisher unerkannte Anomalien in der Embryonalentwicklung. Sie berufen sich dabei auf Untersuchungen an sogenannten Organoiden: Im Labor gezüchtete Gewebekulturen, an denen sich Krankheitsprozesse nachvollziehen lassen. Ihre Befunde sind in der Fachzeitschrift „Cell Reports Medicine“ veröffentlicht.
Bei der SMA gehen Nervenzellen im Rückenmark zugrunde, was Lähmungen und Muskelschwund verursacht. Die Erkrankung macht sich meist im Kindesalter bemerkbar und betrifft in Deutschland schätzungsweise 1.500 Menschen. Als Auslöser gelten Defekte in einem speziellen Gen: Sie führen dazu, dass zu wenig des sogenannten SMN-Proteins (Survival of Motor Neuron-Protein) gebildet wird. Dieser Eiweißstoff ist von entscheidender Bedeutung für Nervenzellen, die an der Steuerung von Bewegungen beteiligt sind. Seit wenigen Jahren stehen medizinische Verfahren zur Verfügung, die dem Protein-Mangel mittels Gentherapie entgegensteuern. Die Behandlung kann bereits wenige Tage nach der Geburt beginnen. Dieser Ansatz kann zwar die Symptome der Krankheit lindern, ist aber nach bisheriger Erfahrung kein Heilmittel.
Bisher unbekannte Vorgeschichte
Dresdner Forschende regen nun an, bei der Suche nach besseren Therapien die Perspektive zu erweitern. „Die derzeitige Sicht auf die SMA konzentriert sich auf die Erkrankung nach der Geburt, wenn das Grundgerüst des Nervensystems weitgehend ausgebildet ist. Dabei wird außer Acht gelassen, dass krankheitsrelevante Phänomene schon viel früher auftreten könnten, wenn das Nervensystem noch im Entstehen ist. Tatsächlich deuten unsere Studien darauf hin, dass es bei einer SMA schon im Embryonalstadium Fehlentwicklungen gibt, von denen man bisher nicht wusste. Wir glauben daher, dass diese Erkrankung eine bisher unbekannte Vorgeschichte hat und dass sie Maßnahmen erfordert, die über die bisherigen Therapien hinausgehen“, so Dr. Natalia Rodríguez-Muela, Forschungsgruppenleiterin am DZNE-Standort Dresden und am Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der Technischen Universität Dresden.
Winzige Gewebeproben
Für ihre Studien züchteten Rodríguez-Muela und ihre Kolleginnen und Kollegen sogenannte Organoide, die wesentliche Merkmale von Rückenmarks- und Muskelgewebe nachbilden. Diese komplexen, wenn auch winzigen Gewebeproben – jede etwa so groß wie ein Reiskorn – wurden mit Hilfe menschlicher induzierter pluripotenter Stammzellen hergestellt. Diese Zellen wiederum waren durch die Reprogrammierung von Hautzellen von Personen mit SMA gewonnen worden. „Es ist das erste Mal, dass Organoide dieser Komplexität für die Erforschung von SMA erzeugt wurden“, sagt Rodríguez-Muela. „Obwohl es sich um Modellsysteme handelt, die gewisse Einschränkungen aufweisen, kommen sie den realen Verhältnissen recht nahe, weil sie eine Vielfalt von Zelltypen und Gewebestrukturen beinhalten, die im menschlichen Körper vorkommen.“ Da sich die Organoide im Laufe der Zeit fortentwickelten, konnten die Forschenden verschiedene Stadien untersuchen: „Die früheste Phase, die wir mit unserem Organoid-Modell nachbilden können, entspricht der eines menschlichen Embryos im Alter weniger Wochen. Allerdings bilden wir nur Rückenmark und Muskelgewebe nach. Ausgehend von der frühen Entwicklungsphase können wir bis zum Zustand nach der Geburt vorrücken, wie er insbesondere bei SMA-Patienten zu beobachten ist“, erklärt Rodríguez-Muela.
Zelluläre Fehlentwicklungen
Beim Vergleich der Organoide mit SMA-Pathologie mit gesunden Exemplaren stießen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf bedeutsame Unterschiede: Insbesondere neigten Stammzellen in Organoiden mit SMA-Pathologie dazu, sich vorzeitig zu Nervenzellen des Rückenmarks zu entwickeln. Außerdem kam es zu einer „Verschiebung“ der Zellpopulation, das heißt: Aus den Stammzellen entstanden weniger Nervenzellen als im Normalfall, die zudem sehr verletzlich waren, und mehr Muskelzellen. Ähnliche Effekte beobachteten Rodríguez-Muela und ihr Team auch bei Mäusen und Mausembryonen mit SMA-artigem Krankheitsbild. Was die Befunde aus den Organoiden unterstützt. Diese Gewebekulturen lieferten zudem ein anderes, wichtiges Ergebnis. „Auch nach Korrektur des genetischen Defekts, der mit der SMA einhergeht, haben wir Entwicklungsanomalien beobachtet, wenn auch in geringerem Ausmaß“, sagt Rodríguez-Muela. „Dies deutet darauf hin, dass eine Wiederherstellung des Gens, wie es durch die aktuellen Therapien in gewisser Weise geschieht, sehr wahrscheinlich nicht ausreicht, um die SMA-Pathologie vollständig zu beheben. Das deckt sich mit der bisherigen Erfahrung aus der medizinischen Praxis. Ich glaube deshalb, dass wir die Entwicklungsstörungen angehen müssen, wenn wir die Behandlung von SMA verbessern möchten.“
Die Regulation im Fokus
Rodríguez-Muela vermutet, dass die Ursache für die beobachteten Entwicklungsprobleme in einer gestörten Genregulation liegen könnte. „Möglicherweise kommt es nicht nur darauf an, ob das Gen für die Produktion des SMN-Proteins defekt ist oder nicht. Vielleicht ist es auch von Bedeutung, ob sich der Mangel dieses Proteins auf andere Gene auswirkt, die für die frühe Embryonalentwicklung entscheidend sind. Hier könnte es eine regulierende Wirkung geben. Tatsache ist, dass wir das noch nicht wissen, aber es ist eine plausible Möglichkeit“, sagt sie. „Ich finde, dass man dieser Idee nachgehen sollte. Langfristig könnte dies zu besseren Therapien führen, die die bisherigen Ansätze mit Medikamenten zur Beeinflussung der Genregulation kombinieren. Sie müssten also auf die sogenannte Epigenetik einwirken. Um die Entwicklungsstörungen zu minimieren, müsste eine solche Behandlung höchstwahrscheinlich in der frühen Schwangerschaft erfolgen. Falls Pränataltests auf SMA hinweisen, könnte dies eine therapeutische Option sein.“
Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Das DZNE ist ein Forschungsinstitut für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Erkrankungen, die eine enorme Belastung für unzählige Betroffene, ihre Familien und das Gesundheitssystem bedeuten. Das DZNE hat zum Ziel, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Es hat bundesweit zehn Standorte und kooperiert mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das DZNE wird staatlich gefördert, es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung. https://www.dzne.de
Über das Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD)
Am Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der TU Dresden widmen sich Spitzenforscher und -forscherinnen aus mehr als 30 Ländern neuen Therapieansätzen. Sie entschlüsseln die Prinzipien der Zell- und Geweberegeneration und ergründen deren Nutzung für Diagnose, Behandlung und Heilung von Krankheiten. Das CRTD verknüpft Labor und Klinik, vernetzt Wissenschaft und Klinik, nutzt Fachwissen in Stammzellforschung, Entwicklungs- und Regenerationsbiologie, um letztlich die Heilung von Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson, hämatologischen Krankheiten wie Leukämie, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes sowie Augen- und Knochenerkrankungen zu erreichen. Das CRTD wurde 2006 als Forschungszentrum der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gegründet und bis 2018 als DFG-Forschungszentrum, sowie als Exzellenzcluster gefördert. Seit 2019 wird das CRTD mit Mitteln der TU Dresden und des Freistaates Sachsen finanziert.
Das CRTD ist eines von drei Instituten der zentralen wissenschaftlichen Einrichtung Center for Molecular and Cellular Bioengineering (CMCB) der TU Dresden.
https://www.tud.de/crtd
https://tu-dresden.de/cmcb
Originalpublikation:
Isogenic patient-derived organoids reveal early neurodevelopmental defects in spinal muscular atrophy initiation, Tobias Grass et al., Cell Reports Medicine (2024), DOI: 10.1016/j.xcrm.2024.101659