Resilienz: Was schützt Säuglinge vor dem Plötzlichen Kindstod?

Europäische Forschungsgruppe präsentiert Erklärungsmodell

Der plötzliche, unerwartete und medizinisch unerklärbare Tod eines Säuglings im Schlaf, der Plötzliche Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome (SIDS)), bleibt wissenschaftlich in vielen Teilen unverstanden. Eine europäische Forschungsgruppe stellt nun in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Human Nature ein neues Erklärungsmodell dazu vor. Dieses Modell konzentriert sich vor allem auf die spannende Frage, welche Rolle dabei die angeborenen und erworbenen Schutzfaktoren von Säuglingen spielen könnten. „Die Resilienz von Säuglingen gegenüber SIDS ist eine bisher unbeantwortete Frage. Dazu legen wir ein Erklärungsmodell vor“, sagt Erstautor und Kinderarzt Herbert Renz-Postler, affiliiert am Bereich Versorgungsforschung der Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Kinderkardiologie und Neonatologie des Universitätsklinikums Düsseldorf.

Bisher wurde SIDS vor allem über den Einfluss von Risikofaktoren erklärt, denen Säuglinge ausgesetzt sind. Etwa mit der Bauchlage, Zigarettenrauchen der Eltern, zu schwerem Bettzeug oder einer ungünstigen Schlafoberfläche. Tatsächlich spielen solche Risikofaktoren beim Zustandekommen von SIDS eine wichtige Rolle, und das stellt auch das Autorenteam der neuen Arbeit klar: „Natürlich zählen diese Risiken. SIDS-Fälle ohne mindestens einen der bekannten Risikofaktoren sind extrem selten, zumeist liegen bei diesen tragischen Ereignissen ja gleich mehrere Risiken vor. Dennoch reicht das nicht für eine umfassende Erklärung“, sagt Prof. Dr. Freia De Bock, Leitung des Bereichs Versorgungsforschung im Kindes- und Jugendalter, Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Neonatologie und Kinderkardiologie und Center for Health and Society (chs) am Universitätsklinikum Düsseldorf.

So ist zum Beispiel unklar, warum das SIDS-Risiko erst nach der Neugeborenenzeit so deutlich ansteigt: „Warum sollte ein drei Monate altes Baby anfälliger für die typischen SIDS-Risiken sein als ein drei Wochen altes“, fragen hierzu die Forschenden in ihrem Beitrag. Ähnliches gelte für die Tatsache, dass männliche Säuglinge offenbar anfälliger für SIDS sind. Auch sei die gegen SIDS schützende Wirkung des Stillens bisher nicht schlüssig erklärt.

Die Wissenschaftler*innen weisen in der aktuellen Publikation auf die Grenzen des risikobasierten Erklärungsmodells hin. Bei der Analyse der SIDS-Daten zeige sich nämlich, dass dieses allein den Plötzlichen Kindstod äußerst schlecht vorhersagen können: „Über 99 Prozent der Säuglinge mit bestimmten Risiken stirbt eben NICHT an SIDS“, sagt Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster. Um diese Frage zu beantworten, analysierte die multidisziplinäre Gruppe die bisherigen Studien zum Plötzlichen Kindstod auf Grundlage fächerübergreifender Forschung in der SIDS-Epidemiologie, der Schlafforschung, der Anthropologie, der Entwicklungspädiatrie und pädiatrischer Public Health und nahm sich insbesondere die Ergebnisse der experimentellen Säuglingsforschung vor.

Nach diesen Befunden entwickeln Säuglinge im Rahmen ihrer normalen und gesunden Entwicklung ein reichhaltiges Schutzrepertoire, das ihnen hilft, auf widrige Einflüsse kompetent und effizient zu reagieren. Die Kinder, die am Plötzlichen Kindstod versterben, konnten anscheinend das Schutzrepertoire nicht richtig aufbauen. Dazu passt, dass sich bei der überwiegenden Mehrzahl der SIDS-Opfer Entwicklungsnachteile nachweisen lassen – etwa durch mütterliches Rauchen in der Schwangerschaft oder starke Frühgeburtlichkeit.

Der Blick auf die Schutzfaktoren könnte besonders fruchtbar für die Erklärung der „relativen Schonfrist“ am Lebensanfang sein: „Die frühe Säuglingsforschung hat schon vor 100 Jahren gezeigt, dass die Säuglinge in den ersten Lebenswochen einen mächtigen Schutz mit sich tragen: ihre angeborenen Neugeborenenreflexe. Diese sichern ihnen zum Beispiel die freie Atmung. Dieses „mitgelieferte“ Schutzschild muss dann allerdings allmählich durch ein erworbenes und auch regelrecht „antrainiertes“ Schutzprogramm ersetzt werden“, sagt Prof. De Bock. Schon frühere SIDS-Forscher wiesen darauf hin, dass dieser Übergang zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat liegt – genau in der Entwicklungsphase also, in der SIDS am häufigsten ist.

Mit dieser Übergangsphase scheinen es gerade die in ihrer Entwicklung belasteten Babys schwerer zu haben. Aber auch die Alltagserfahrungen des Säuglings spielen bei dabei offenbar eine wichtige Rolle. Hier verweist das Autorenteam auf die Evolutionstheorie, nach der die arttypischen Pflegeerfahrungen immer auch Lern- und Trainingsgelegenheiten für den Säugling waren, um Schutzverhalten einzuüben. Das Trinken an der Mutterbrust wird in der Arbeit ausführlich als Beispiel dafür beschrieben, und tatsächlich zeigten Beobachtungen schon in den 1960er Jahren, dass hierbei wohl auch Kompetenzen zur Sicherung einer freien Atmung beübt und erweitert werden.

Aus diesen Befunden und Überlegungen entwickeln die Wissenschaftler nun ein umfassendes Modell für das Zustandekommen von SIDS, das sie „evolutionär-entwicklungsbezogenes Modell“ nennen. Nach diesem Modell beruht die Verletzlichkeit gegenüber SIDS auf einem Ungleichgewicht zwischen Risikofaktoren und Schutzfaktoren, die sich während der Entwicklung des Säuglings ausbilden: „Für uns stellt SIDS ein tödliches Ungleichgewicht zwischen den gegenwärtigen physiologischen Herausforderungen und den im Laufe der Entwicklung erworbenen Schutzmöglichkeiten dar“, sagt Dr. Herbert Renz-Polster.

Originalpublikation:

Herbert Renz-Polster, Peter Blair, Helen Ball, Oskar Jenni, Freia De Bock: Death from Failed Protection? An Evolutionary-Developmental Theory of Sudden Infant Death Syndrome. Human Nature, Vol. 35(2), (2024); https://doi.org/10.1007/s12110-024-09474-6

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