Übersterblichkeit während der Coronapandemie: Große regionale Unterschiede in Europa

Während der COVID-19-Pandemie verzeichneten die meisten europäischen Regionen Übersterblichkeit. Eine neue Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und des Französischen Instituts für demografische Studien (INED) in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications erlaubt nun erstmals für Europa eine detaillierte räumliche Betrachtung der Übersterblichkeit im Zeitverlauf. Dafür schätzten die Forschenden auf Basis zurückliegender Entwicklungen, wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt ohne Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 entwickelt hätte. Diese Werte wurden mit der tatsächlich gemessenen Lebenserwartung verglichen.

Mit überraschenden Ergebnissen: Während es in einigen Regionen zu einer starken Übersterblichkeit kam, blieb die Sterblichkeit in manchen Gebieten nahezu unverändert. Insgesamt umfasst die Studie Daten für 569 Regionen in 25 europäischen Ländern.

Im ersten Pandemiejahr registrierten die Forschenden eine hohe Übersterblichkeit hauptsächlich in Norditalien, der Südschweiz, in Zentralspanien und in Polen. „In der Spitze lag die Lebenserwartung mehr als zweieinhalb Jahre unter dem Erwartungswert, und zwar in jenen Regionen, in denen die ersten großen europäischen COVID-19-Ausbrüche waren, nämlich in Norditalien und Zentralspanien“, sagt Mitautor Dr. Michael Mühlichen vom BiB. Gerade am Beispiel Italiens belegt die Studie, wie stark regionale Unterschiede in manchen Ländern waren: So hatten Regionen wie Bergamo und Cremona im Ballungsraum Mailand 2020 bei der Lebenserwartung eine Übersterblichkeit von knapp über 4 Jahren. In einigen süditalienischen Provinzen war hingegen keine erhöhte Sterblichkeit messbar. In Teilen Nord- und Westdeutschlands, Dänemarks, West- und Südfrankreichs, Norwegens und Schwedens wurde 2020 sogar eine Untersterblichkeit verzeichnet.

2021 hohe Übersterblichkeit vor allem in Osteuropa

Im Laufe der Zeit änderten sich die Muster der Übersterblichkeit: „Während im ersten Pandemiejahr 362 Regionen eine signifikante Übersterblichkeit verzeichneten, waren es im Folgejahr sogar 440“, berichtet Mitautor Dr. Pavel Grigoriev, Leiter der Forschungsgruppe Mortalität am BiB. Aus regionaler Sicht verlagerte sich die Übersterblichkeit 2021 stark nach Osteuropa und betraf Männer stärker als Frauen. In der Slowakei, Litauen, Lettland, Ungarn sowie in Teilen Polens und Tschechiens lag die Lebenserwartung um mehr als 2,5 Jahre unter dem erwarteten Wert. Im Vergleich zu Osteuropa zeigten viele westeuropäische Regionen im Jahr 2021 eine geringere Übersterblichkeit, wenngleich diese auch dort überwiegend höher war als noch im Vorjahr. „Die Ursachen für die großen regionale Unterschiede sind komplex und lassen sich unter anderem auf den unterschiedlichen Anteil vulnerabler Menschen zurückführen“, erklärt Mühlichen. „Inwieweit relevante Vorerkrankungen regional verbreitet sind, hängt mit der Altersstruktur und dem Risikoverhalten der Bevölkerung zusammen, welche wiederum durch sozioökonomische Bedingungen beeinflusst werden.“
Auch innerhalb Deutschlands war 2021 ein beträchtliches Ost-West-Gefälle sichtbar. So betrug die Übersterblichkeit in Thüringen, im Süden und Osten von Sachsen sowie im Süden von Sachsen-Anhalt und Brandenburg 1,5 bis 2 Jahre. Im früheren Bundesgebiet lag sie – mit Ausnahme einiger bayerischer Gebiete – unter einem Jahr.

Pandemie breitete sich von der Stadt auf das Land aus

Die Untersuchung zeigt zudem, dass die Pandemie zunächst städtische Gebiete mit hoher internationaler Vernetzung betroffen hat. Von dort breitete sie sich dann in weniger vernetzte und peripherere Gebiete aus. „Tiefergehende regionale Analysen ermöglichen eine differenzierte Bewertung der Unterschiede in der Übersterblichkeit, die bei der Betrachtung auf Länderebene oft verborgen bleiben“, hebt Grigoriev den praktischen Nutzen der Studie hervor. „Diese Erkenntnisse helfen, die Übersterblichkeit während der Pandemie besser zu verstehen und dies in Vorsorgemaßnahmen für zukünftige Pandemien miteinzubeziehen.“

Hintergrundinformation über die Studie und die Methodik

Das Ausmaß der ermittelten Über- und Untersterblichkeit hängt davon ab, womit die während der Coronapandemie in den Jahren 2020 und 2021 verzeichnete Lebenserwartung verglichen wird. Für diese Studie wurde die langfristige Entwicklung der Lebenserwartung jeder untersuchten Region vor 2020 einbezogen. Darauf basierend wurden mittels eines statistischen Schätzverfahrens die wahrscheinlichsten Werte für die Lebenserwartung in den Jahren 2020 und 2021 „prognostiziert“. Die Abweichung von diesen erwarteten Werten zu den tatsächlich gemessenen Werten gibt die Über- bzw. Untersterblichkeit in der jeweiligen Region an.

Originalpublikation:

Bonnet, Florian; Grigoriev, Pavel; Sauerberg, Markus; Alliger, Ina; Mühlichen, Michael; Camarda, Carlo-Giovanni (2024): Spatial disparities in the mortality burden of the covid-19 pandemic across 569 European regions (2020–2021). Nature Communications 15(4246).
https://doi.org/10.1038/s41467-024-48689-0