Proteine als Schlüssel zur Präzisionsmedizin: Unbekannte Wirkungen vorhandener Medikamente finden
Weniger Nebenwirkungen, bessere Heilungschancen: Patientinnen und Patienten möglichst individuell behandeln können, ist Ziel der Präzisionsmedizin. Ein genaues Verständnis von Zellvorgängen ist hierfür unerlässlich. Forschende der Technischen Universität München (TUM) konnten nun erstmals die Interaktion von 144 Wirkstoffen mit rund 8.000 Proteinen abbilden. Die Ergebnisse könnten unbekannte Potenziale vorhandener Medikamente aufzeigen.
So gut wie alle Medikamente wirken auf Proteine ein, sind Proteine, erzeugen diese oder bauen sie ab. Aber was passiert genau, wenn eine Dosis hoch oder niedrig ist? Und was zu verschiedenen Zeitpunkten der Wirkdauer? Produziert die Zelle unter dem Einfluss des Medikaments neue Proteine oder stellt sie die Produktion gewisser Proteine ein? Bislang kannte man die Antworten auf diese Fragen nicht oder nur teilweise. Dem Forschungsteam ist es nun gelungen, mit der Methode „decryptE“ diese Interaktionen zu zeigen.
Viele Ergebnisse in kurzer Zeit
Hierfür haben die Forschenden Zellen über einen Zeitraum von 18 Stunden mit verschiedenen Dosen von 144 Wirkstoffen behandelt, die größtenteils der Krebsbehandlung dienen und entweder schon eingesetzt werden oder sich in der klinischen Zulassungsphase befinden. Die Proteine wurden extrahiert und mittels Massenspektrometrie untersucht. Anschließend konnte das Team mit den so erhobenen Daten die Reaktion der Zellen auswerten. So erhielten sie mehr als eine Million Dosis-Wirkungskurven, die den Wirkmechanismus der getesteten Wirkstoffe über den Zeitraum der Behandlung hinweg abbilden.
Ihre Ergebnisse haben Bernhard Küster, Professor für Proteomik und Bioanalytik an der TUM School of Life Sciences, Nicola Berner, Stephan Eckert und das Forschungsteam, das am Lehrstuhl für Proteomik und Bioanalytik der TUM koordiniert wurde, jüngst in „Nature Biotechnology“ veröffentlicht. Die Daten stehen der globalen Forschungsgemeinschaft in der Datenbank ProteomicsDB und der dazugehörigen App zur Verfügung.
Potenziale vorhandener Medikamente erkennen
Warum ein genaues Verständnis dieser Vorgänge so wichtig ist, zeigt das Beispiel Krebs: Je nach Krebsart geschehen auf molekularer Ebene sehr unterschiedliche Dinge. Das wirkt sich maßgeblich auf die passende Therapie aus und kann Anhaltspunkte für die Entwicklung neuer Medikamente liefern. So konnten die Expertinnen und Experten auf Basis der Daten zum Beispiel zeigen, dass die Medikamentengruppe der HDAC-Inhibitoren das Immunsystem schwächen kann. Das wirkt sich dann auf Therapieansätze aus, die sich gezielt das Immunsystem zu Nutze machen.
Dass das Team zu diesem Befund kommen konnte, nach dem es nicht ursprünglich gesucht hatte, liegt an der Funktionsweise von „decryptE“. Im Regelfall sind Experimente im Hinblick auf eine fest definierte Fragestellung konzipiert und liefern im Idealfall für diese eine Antwort. „decryptE“ hingegen zeichnet alles auf, was passiert – und produziert somit eine große Menge von Daten, die Forschende nun mit Hilfe digitaler Methoden und im Hinblick auf verschiedene Fragestellungen auswerten können. Das Team hofft, dass die Ergebnisse auch Hinweise auf bisher unbekannte Wirkungen bekannter Mittel bergen.
„Viele Medikamente können mehr als wir denken“, sagt Bernhard Küster. „Ein bekanntes Beispiel ist Aspirin. Die Wirksamkeit in der Schmerzbehandlung war schon lange bekannt. Beobachtungen zeigten, dass der enthaltene Wirkstoff Acetylsalicylsäure auch eine blutverdünnende Wirkung hat. Heutzutage wird er standardmäßig auch zur Behandlung bei Schlaganfällen und Herzinfarkten eingesetzt. Wir gehen davon aus, dass eine ganze Reihe bereits bekannter Mittel Wirkungen entfalten kann, von denen wir bisher noch nichts wissen. Diese systematisch suchen und finden zu können, ohne auf zufällige Beobachtungen angewiesen zu sein, ist eines unserer Forschungsziele.“
Originalpublikation:
Eckert, S., Berner, N., Kramer, K. et al. „Decrypting the molecular basis of cellular drug phenotypes by dose-resolved expression proteomics“. Nat Biotechnol (2024). DOI: doi.org/10.1038/s41587-024-02218-y