Studienergebnissen von Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren zur Behandlung der Multiplen Sklerose
Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTKi) werden aktuell für die Behandlung verschiedener Autoimmunerkrankungen entwickelt, insbesondere für Multiple Sklerose (MS). Die beiden Präparate Evobrutinib und Tolebrutinib konnten in der schubförmigen MS keine Überlegenheit gegenüber Teriflunomid zeigen. Allerdings liegen nun erstmals positive Studienergebnisse für Tolebrutinib für die Therapie der sekundär-progredienten MS ohne Schübe vor, die Hoffnung bei MS-Betroffenen wecken. Der mögliche Nutzen und die potentiellen Risiken dieser neuen Substanzklasse sollen hier erläutert werden.
Wie ist der Wirkmechanismus von Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTKi)?
BTKi werden für verschiedene Autoimmunerkrankungen entwickelt, da durch Hemmung der Bruton-Tyrosinkinase intrazelluläre Signalwege für die Reifung, die Proliferation, das Überleben und die Aktivierung von B Zellen und myeloischen Zellen blockiert werden können. Neben der Zellreifung und -aktivierung hemmen BTKi die Antikörperproduktion, Zytokinsekretion sowie die Aktivierung des Inflammasoms. BTKi wirken gleichzeitig auf das adaptive und das angeborene Immunsystem und das sowohl in der Peripherie wie im zentralen Nervensystem (ZNS). Als sog. small molecules können BTKi über die Blut-Hirn-Schranke gelangen und haben das Potential lokal fehlregulierte inflammatorische Prozesse, insbesondere aktivierte Mikroglia und Makrophagen, zu modulieren. Dies kann konzeptionell von hoher Relevanz sein, da bei der MS den im ZNS kompartimentalisierten Entzündungsprozessen eine wichtige Rolle für die Krankheitsprogression zugeschrieben wird. Zudem wird die nicht-fokale Erkrankungsbiologie oft als wesentlicher Grund für die Progression angeführt.
Welche bisherigen Ergebnisse gab es mit BTKi bei schubförmiger MS?
Die 2024 publizierten EVOLUTION-1 und -2 Phase 3-Studien untersuchten den BTKi Evobrutinib (45mg 2x tgl.) gegen Teriflunomid (14mg) bei Patienten mit schubförmiger MS im Alter von 18 bis 55 Jahren. Insgesamt wurden 2290 Patienten mit medianem Alter von 37 Jahren und EDSS von 2,8 eingeschlossen. Der primäre Endpunkt war in beiden EVULUTION-Studien negativ, d.h. es ergab sich jeweils kein Vorteil von Evobrutinib gegenüber Teriflunomid in Bezug auf die jährliche Schubrate. Auch die wesentlichen sekundären Endpunkte waren negativ, insbesondere ergab sich kein statistisch signifikanter Unter-schied bei der Behinderungsprogression beider Gruppen. Eine Studie bei progredienten Verlaufsformen wurde mit dieser Substanz nicht durchgeführt.
Diese Ergebnisse zur schubförmigen MS decken sich mit den Resultaten der im September 2024 auf dem ECTRIMS-Kongress vorgestellten GEMINI-1 und -2-Studien, in denen der BTKi Tolebrutinib (60mg 1x tgl.) mit Teriflunomid (14mg) bei Patienten mit schubförmiger MS vergleichen wurde. Insgesamt wurden 1873 Patienten eingeschlossen. Das mittlere Alter der Patienten lag bei 36 Jahren, der mittlere EDSS bei 2,3 – 2,4, womit ein ähnliches Studienkollektiv wie in den EVOLUTION-Studien untersucht wurde. Auch die GEMINI-Studien zeigten in Bezug auf den primären Endpunkt jährliche Schubrate keinen Unterschied zwischen mit Tolebrutinib und Teriflunomid behandelten Patienten. Ebenso ergaben sich keine signifikanten Unterschiede in der Rate neuer, Gadolinium-aufnehmender T1-Läsionen und neuer bzw. sich vergrößernder T2-Läsionen in der MRT. Allerdings zeigte sich in einer gepoolten Analyse beider GEMINI-Studien eine signifikante Risikoreduktion für Behinderungsprogression, gemessen an der 6-Monate-bestätigen-Behinderungsprogression (29%-ige relative Risikoreduktion). Darüber hinaus hatten signifikant mehr Patienten eine Behinderungsverbesserung, wobei der absolute Wert bei lediglich 2 von 100 Patienten lag (number needed to treat, NNT=50).
Welche neuen Studienergebnisse gibt es für die sekundär-progrediente MS ohne eindeutige Schübe?
In der HERCULES-Studie, deren Ergebnisse parallel mit den Ergebnissen der o.g. GEMINI-Studien auf dem ECTRIMS 2024 präsentiert wurden, wurde die Wirkung des BTKi Tolebrutinib auf die Behinderungsprogression bei nicht-relapsierender sekundär-progredienter MS untersucht. Es wurden Patienten mit SPMS und bestätigter Behinderungsprogression in den letzten 12 Monaten, jedoch Abwesenheit von klinischen Schüben in den letzten 24 Monaten einge-schlossen. Insgesamt wurden 1131 Patienten randomisiert (377 Placebo, 754 Tolebrutinib). Das mittlere Alter lag bei 49 Jahren, der mittlere EDSS lag bei 5,5, die MS bestand im Mittel seit 17,3 Jahren und der letzte klinische Schub trat im Mittel vor 7,5 Jahren auf. Der primäre Endpunkt der Studie, die Zeit bis zur 6-Monate-bestätigten-Behinderungsprogression wurde erreicht (31% relative Risikoreduktion, NNT=9,7). Sekundärer Endpunkte wie die 3-Monate-bestätigte-Behinderungsprogression (24% Risikoreduktion) und die Zeit bis zur bestätigten 6-Monate-Behinderungsverbesserung (NNT=20) waren positiv, ebenso sekundäre Bildgebungsendpunkt wie neue bzw. sich vergrößernde T2-Läsionen (allerdings im Vergleich zu Placebo). Es wurde kein signifikanter Unterschied hin-sichtlich MRT-Atrophieparametern dokumentiert, die Abnahme des Gesamtgehirnvolumens unterschied sich nicht zwischen Tolebrutinib und Placebo.
Sicherheit und Beurteilung der BTKi-Studien
Entscheidend für die Akzeptanz bei Zulassungsbehörden und in der neurologischen Praxis wird die Nutzen-/Risikorelation der BTKi sein. Die Phase-3-Studienprogramme mussten vorübergehend aufgrund von Lebertoxizität gestoppt werden. In den beiden Tolebrutinib-Studien hatte etwa jeder 20. Patient unter Tolebrutinib eine Erhöhung der Transaminasen, bei 0,5 % der Patienten wurde ein Anstieg über das 20-fache dokumentiert. Ein relevanter Anstieg der Leberenzyme findet faktisch ausschließlich in den ersten Behandlungsmonaten statt (zumindest über den Beobachtungszeitrum des Tolebrutinib-Programms). Die Leberwertveränderungen sind bei Aus- oder Absetzen des Präparates reversibel, in den Studien führte dies allerdings zu einem Todesfall nach Lebertransplantation bei einem mit Tolebrutinib behandelten Patienten. Als Folge wurde ein rigides Transaminasen-Monitoring in den ersten Monaten nach Beginn des Studienmedikamentes eingeführt. In der HERCULES-Studie zeigte sich eine leichtgradig erhöhte Rate von Nebenwirkungen und schweren Nebenwirkungen in Tolebrutinib- gegenüber Placebo-behandelten Patienten, ins-besondere für respiratorische Infektionen. In den GEMINI-Studien fanden sich keine relevanten Unterschiede im Sicherheitsprofil zwischen Tolebrutinib und Teriflunomid.
Zukünftiger Stellenwert der BTKi-Therapie
„Die wegweisenden HERCULES-Studiendaten stützen das Konzept, dass durch BTKi eine klinische Behinderungsprogression gebremst werden kann, die offensichtlich nicht wesentlich durch messbare entzündliche Schubaktivität getrieben ist “, so Prof. Dr. Ingo Kleiter, Ärztlicher Direktor der Marianne Strauß Klinik und Mitglied des Fachausschusses Versorgungsstrukturen und Therapeutika des KKNMS, „dies, ist konzeptionell enorm interessant, da es erstmals die Therapiemodulierbarkeit nicht-fokaler Erkrankungsbiologie demonstriert. Damit macht es Tolebrutinib zu einem interessanten Ansatz für progrediente, nicht-schubförmige MS.“
Für diese Verlaufsform hat bisher kein weiteres Medikament eine klare Wirksamkeit in kontrollierten-randomisierten Studien gezeigt, die Ergebnisse sind von daher anders einzuordnen als für Siponimod (zugelassen für die aktive SPMS) und Ocrelizumab (zugelassen für die PPMS). Da bisher keine schriftlichen Studienergebnisse oder Subgruppenanalysen vorliegen, sind allerdings viele Punkte offen. Insbesondere besteht die Frage, ob der Effekt auf die Behinderungsprogression überwiegend in denjenigen Patienten aufgetreten ist, die noch Entzündungsaktivität, also Gadolinium-aufnehmende oder neue MRT-Läsionen hatten, was bei 13% der Patienten bei Baseline der Fall war. Extrem relevant dürften von daher die Ergebnisse der PERSEUS Studie mit Tolebrutinib bei der PPMS werden, die frühestens 2025 erwartet werden. Diese werden weiter verdeutlichen bei welchen Formen der Erkrankungsprogredienz das Wirkprinzip signifikante Effekte zeigt.
Obwohl Tolebrutinib bei RRMS keine zusätzliche Wirkung auf die Schubprävention gegenüber Teriflunomid hatte, zeigte sich ein ähnlicher Effekt auf die Behinderungsprogression wie in der Studie für nicht-relapsierende SPMS. Dies stützt die Hypothese, dass klinische Schübe als Indikator für akute Inflammation und die diffuse, nicht-fokale Neuroinflammation bei MS zwei unterschiedliche biologische Prozesse sind.
Allerdings ergaben sich in den 3 vorliegenden Studien diskordante Effekte auf die Gehirnatrophie, diese war in einer Studie für RRMS positiv und in den anderen beiden negativ. „Insgesamt scheint der Effekt von BTKi auf periphere Immunaktivität eher gering zu sein, wie auch die negativen Studien für Evobrutinib bei rheumatoider Arthritis sowie Evobrutinib und Fenebrutinib bei systemischen Lupus Erythematodes zeigen“, so Prof. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Neurologie und Neurophysiologie der Universität Freiburg und Sprecher des KKNMS.
Derzeit ist der zukünftige Anwendungsbereich von Tolebrutinib (und weiteren in Entwicklung befindlichen BTKi, insbesondere Fenebrutinib und Remibrutinib) über das MS-Spektrum ungeklärt. Bisher ist offen, ob der in der SPMS-Studie gezeigte, signifikante Effekt auf Progression in ähnlicher Ausprägung bei PPMS und insbesondere im Kontext von schubförmiger MS auftritt. Vorbehaltlich einer Zulassung von Tolebrutinib stellt sich allerdings schon jetzt die Frage nach potentiellen Anwendungsszenarien. Dies ist aus unserer Sicht insbesondere die Behandlung der diffusen, nicht-fokalen Neuroinflammation der MS, wenn über einen bestimmten Zeitraum keine fokale Krankheitsaktivität mehr nachweisbar ist. Prinzipiell denkbar, aber bisher nicht durch Daten hinterlegt, wäre auch eine Sequenzierung nach hoch-effektiver Therapie wie CD20 Antikörpern oder eine Anwendung zur Vorbeugung von Progression in der frühen schubförmigen Phase der MS.
Autoren
Prof. Dr. med. Ingo Kleiter
Marianne Strauß Klinik, Behandlungszentrum Kempfenhausen für Multiple Sklerose Kranke gemeinnützige GmbH
Prof. Dr. med. Matthias Mäurer
Klinikum Würzburg Mitte gGmbH, Standort Juliusspital
Univ. Prof. Dr. med. Heinz Wiendl
Klinik für Neurologie mit Neurophysiologie, Universität Freiburg
Prof. Dr. med. Clemens Warnke
Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Marburg
Quellen
[1] Krämer J, Bar-Or A, Turner TJ, Wiendl H. Bruton tyrosine kinase inhibitors for multiple sclerosis. Nat Rev Neurol. 2023 May;19(5):289-304.
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