Neuer Mechanismus: Wie Krebszellen dem Immunsystem entwischen
Ein internationales Team unter Federführung der Goethe-Universität Frankfurt hat einen innerzellulären Sensor identifiziert, der die Qualität sogenannter MHC-I-Moleküle überwacht. MHC-I-Moleküle helfen dem Immunsystem, kranke Zellen – zum Beispiel Tumorzellen – zu erkennen und abzutöten. Der Sensor sorgt dafür, dass defekte MHC-I-Moleküle im Zellinneren verbleiben und schließlich abgebaut werden. Überraschenderweise kann ein Fehlen dieser Qualitätssicherung dazu führen, dass mehr MHC-I-Moleküle an die Oberfläche von Krebszellen gelangen und so eine stärkere Immunantwort gegen den Tumor ausgelöst wird.
FRANKFURT. Zellen kann man ihren Gesundheitszustand quasi an der Nasenspitze ansehen: Sie präsentieren auf ihrer Oberfläche Bruchstücke fast aller Proteine, die sie in ihrem Inneren enthalten. Das Immunsystem kann so direkt erkennen, ob eine Zelle von einem Virus infiziert oder durch eine Mutation auf gefährliche Weise verändert wurde.
Für die Präsentation der Bruchstücke sind zahllose molekulare „Funkmasten“ verantwortlich, die MHC-I-Moleküle. Sie werden im Zellinnern zusammengebaut und dann zur Membran transportiert – das ist die Lipidschicht, die die Zelle umgibt. Dort werden die Masten so verankert, dass sie mitsamt ihrer Fracht nach außen weisen. Das Immunsystem verfügt über Einheiten, die ständig im Körper auf Patrouille gehen. Wenn diese Spezialkräfte bei ihrer Kontrolle der MHC-I-Funkmasten schädliche Moleküle entdecken, töten sie die entsprechende Zelle ab. Die Masten selbst dürfen allerdings nicht defekt sein; sonst besteht die Gefahr, dass dieser Mechanismus nicht funktioniert und kranke Zellen dem Immunsystem entgehen. „Wir haben nun einen Sensor in der Zelle entdeckt, der sicherstellt, dass nur funktionsfähige MHC-I-Moleküle zur Plasmamembran transportiert, defekte Einheiten dagegen beseitigt werden“, erklärt Dr. Lina Herhaus, die bis vor kurzem zu diesem Thema am Institut für Biochemie II der Goethe-Universität geforscht hat und nun die Leitung einer eigenen Gruppe am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig übernommen hat.
Zellen produzieren rund um die Uhr eine Vielzahl von Proteinen, die sie für ihre Funktion benötigen. Kommt es dabei zu Fehlern, werden die betroffenen Moleküle in der Regel aussortiert. Die defekten Proteine werden dabei von speziellen Rezeptoren erkannt. Diese sorgen dafür, dass die fehlerhafte Verbindung in eine Art Mini-Müllbeutel verpackt und später zerlegt wird. „Wir haben in unserer Studie nach noch unbekannten Rezeptoren gesucht und sind dabei auf ein Protein namens IRGQ gestoßen“, sagt Herhaus. „Es ist spezifisch für die Qualitätskontrolle der MHC-I-Funkmasten verantwortlich.“
Die Forschenden haben durch einen genetischen Eingriff die Produktion von IRGQ unterbunden. In der Folge häuften sich in den Versuchszellen defekte Funkmasten an. Diese wurden zudem zum Teil in die Zellmembran eingebaut, zusammen mit ihren funktionsfähigen Pendants. „Eigentlich würde man erwarten, dass Zellen ohne IRGQ eine schwächere Immunantwort auslösen – doch dem ist offenbar nicht so: Wir haben verschiedene humane Tumoren analysiert und festgestellt, dass weniger IRGQ mit einer besseren Überlebens-Rate von Patienten mit Leberkrebs assoziiert war“, erklärt Prof. Ivan Đikić vom Institut für Biochemie II, der gemeinsam mit Herhaus die Studie geleitet hat. Die Daten aus den Patienten ließen sich auch in einem experimentellen Leberkrebs-Mausmodell bestätigen: In Tieren ohne IRGQ attackierte das Immunsystem die Tumorzellen deutlich heftiger als normalerweise. Die entsprechenden Nager überlebten den Krebs daher bedeutend länger.
Zumindest für Leberzellkarzinome – die Krebserkrankung, die weltweit am zweitmeisten Todesopfer fordert – könnte IRGQ demnach eine Zielstruktur für neue Medikamente darstellen. „Fest steht, dass wir hier einen neuen Mechanismus gefunden haben, wie Tumorzellen dem Immunsystem entgehen können. In weiterführenden Studien werden wir nun den Einfluss von IRGQ auf andere Krebsarten überprüfen“, betont Đikić. „Unsere Erkenntnisse könnten künftig genutzt werden, um neue Therapien gegen Leberkrebs zu entwickeln. Beispielsweise könnten wir IRGQ medikamentös abbauen und dadurch die Immunreaktion gegen den Krebs stimulieren.“
Unabhängig davon ist der entdeckte Mechanismus auch für die Grundlagenforschung von großem Interesse. „Wir wollen nun herausfinden, wie wichtig IRGQ ganz allgemein für die Funktion des Immunsystems ist, beispielsweise auch bei Virusinfektionen“, sagt Herhaus. „Die Ergebnisse unserer Studie werfen eine ganze Reihe interessanter Fragen auf, deren Antworten unser Verständnis der körpereigenen Immunabwehr vertiefen können.“
Beteiligte Institutionen:
Institute of Biochemistry II, Goethe University Frankfurt
Dana-Farber Cancer Institute, Harvard Institutes of Medicine
Department of Cell Biology, Harvard Medical School
Institute of Biochemistry I, Universitätsmedizin Frankfurt
Buchmann Institute for Molecular Life Sciences, Goethe University Frankfurt
Max Planck Institute of Biophysics, Frankfurt
University Medical Center, Johannes Gutenberg University Mainz
Department of Cell and Chemical Biology, Leiden University Medical Center
Originalpublikation:
Lina Herhaus, Uxía Gestal-Mato, Vinay V. Eapen, Igor Mačinković, Henry J. Bailey, Cristian Prieto-Garcia, Mohit Misra, Anne-Claire Jacomin, Aparna Viswanathan Ammanath, Ivan Bagarić, Jolina Michaelis, Joshua Vollrath, Ramachandra M. Bhaskara, Georg Bündgen, Adriana Covarrubias-Pinto, Koraljka Husnjak, Jonathan Zöller, Ajami Gikandi, Sara Ribičić, Tobias Bopp, Gerbrand J. van der Heden van Noort, Julian D. Langer, Andreas Weigert, J. Wade Harper, Joseph D. Mancias, Ivan Ðikić: IRGQ-mediated autophagy in MHC-I quality control promotes tumor immune evasion. Cell (2024), https://doi.org/10.1016/j.cell.2024.09.048