Was ist der Schlüssel zu einem langen Leben?
In den sogenannten „Blue Zones“ gibt es besonders viele Hundertjährige. Eine Überprüfung der Datenlage deckt dabei allerdings zahlreiche Unsicherheiten auf. Marc Luy, Direktor des ÖAW-Instituts für Demographie, klärt im Gespräch, wie die Studien einzuordnen sind – und wie man möglichst lange leben kann.
Wer möchte nicht alt werden, und dabei möglichst lange gesund bleiben? Die sogenannten „Blue Zones“ scheinen ein Hort der ewigen Jugend zu sein. Sie bezeichnen fünf Weltgegenden, in denen es besonders viele über Hundertjährige geben soll, die körperlich und mental fit geblieben sind. Was diese Orte vereint? Die dort wohnenden Langlebigen bewegen sich viel an der frischen Luft, essen moderat, vor allem Gemüse und Hülsenfrüchte, trinken wenig bis kaum Alkohol, geben dem Familien- und Gemeinschaftsleben einen hohen Stellenwert.
So allgemein dieses Rezept auch klingt, so gut lässt es sich vermarkten. Aber hält es auch einer genaueren Überprüfung statt? Saul Justin Newman, der an der University Oxford und am University College London forscht, erhielt vor kurzem den Ig-Nobelpreis für Demographie. Der seit 1991 von der Zeitschrift „Annals of Improbable Research“ an der Harvard-Universität in Cambridge vergebene Preis soll Menschen erst zum Schmunzeln und dann zum Nachdenken anregen. Eine von Newmans Thesen: Es sind besonders viele Hundertjährige dort zu finden, wo Rentenbetrug einfach ist oder Geburtsdaten falsch notiert wurden.
Marc Luy, Direktor des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), klärt im Gespräch einen weiteren gängigen Irrtum auf: „Der Anteil an Personen, die das Alter 100 erreichen, bedeutet nicht, dass auch die Lebenserwartung der gesamten dort lebenden Bevölkerung besonders hoch sein muss.“
Hundert Jahre alt werden mit Fish & Chips?
Vor kurzem starb ein Mann im englischen Southport im Alter von 112 Jahren. Besondere Geheimnisse habe er nicht, meinte er, freitags esse er gerne eine Portion Fish and Chips. Widerspricht das nicht den Arbeiten zu den „Blue Zones“?
Marc Luy: Hundertjährige gibt es überall, nicht nur in den „Blue Zones“, unter denen auch einige nicht unbedingt den gesündesten Lebensstil pflegen. Die Französin Jeanne Calment wurde 122 Jahre, das ist mit Abstand das höchste Alter, das jemals aufgezeichnet wurde. Und sie war bis weit über Hundert eine Raucherin. Auch Helmut Schmidt, den ehemaligen deutschen Bundeskanzler, hat man nur mit qualmender Zigarette in der Hand gesehen – und er ist 96 geworden. Aber das sind Einzelfälle, aus denen man keine allgemeine Schlussfolgerung ziehen kann. Bei diesen Glücklichen steckt eher eine individuelle genetische Komponente dahinter. In den „Blue Zones“ geht es nicht um Einzelfälle, sondern um einen außergewöhnlich hohen Anteil derjenigen, die das Alter 100 erreichen.
Wo hat man das zuerst entdeckt?
Luy: Kurz vor der Jahrtausendwende sind in einer Studie des italienischen Mediziners Gianni Pes zur Langlebigkeit auf Sardinien bestimmte Regionen mit einer besonders hohen Konzentration an Hundertjährigen aufgefallen. Bereits damals gab es große Skepsis, ob man diesen Daten trauen kann. Es ist also keine neue Tendenz, zu hinterfragen, wie verlässlich besonders hohe Altersangaben sind. Mein Demographie-Kollege Michel Poulain aus Belgien hat dann in den Folgejahren diese Daten vor Ort überprüft und bestätigt. Ich kenne ihn sehr gut und bin überzeugt, dass er diese Arbeit akribisch durchgeführt hat. Aber natürlich kann man letztlich nie beweisen, ob die Geburtsurkunde, die jemand in der Hand hält, auch tatsächlich zur jeweiligen Person gehört.
Zweifel an den Blue Zones
Welche Ungereimtheiten gibt es noch?
Luy: Da gibt es vor allem das Missverständnis in der Interpretation der Studienergebnisse zu den „Blue Zones“. Sie werden immer so dargestellt, als ob in diesen Regionen die Lebenserwartung insgesamt besonders hoch wäre. Aber das muss nicht so sein: Der Anteil an Personen, die das Alter 100 erreichen, bedeutet nicht, dass auch die Lebenserwartung der gesamten dort lebenden Bevölkerung besonders hoch sein muss. Theoretisch könnte die Lebenserwartung bei Geburt sogar auf einem geringen Niveau liegen. Das gilt übrigens auch umgekehrt, wie man zum Beispiel an unserer Klosterstudie sehen kann, die wir an der ÖAW in einem Langzeitprojekt durchführen. Obwohl die Ordensleute, vor allem die Männer, eine sehr hohe Lebenserwartung haben, ist der Anteil der Hundertjährigen in den Klöstern eher unterdurchschnittlich.
Heißt das, dass die Studien zu den „Blue Zones“ gar keine Bedeutung haben?
Luy: Es gibt tatsächlich viele Gründe, warum man die „Blue Zones“ als Langlebigkeitsinseln wissenschaftlich anzweifeln kann. Hinzu kommt, dass die Faktoren, die in diesen Studien als Ursache für die dortige Langlebigkeit beschrieben werden, alles andere als spektakulär sind: körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, aber nicht zu viel essen, Stress vermeiden, persönliche Beziehungen pflegen, einen Sinn im Leben sehen. Interessanterweise fehlt hier mit dem Rauchen der größte Killer unserer Zeit. Das liegt meines Wissens daran, dass der Zigarettenkonsum in den „Blue Zones“-Studien nicht erfasst wurde. Davon abgesehen sind es aber die gleichen Determinanten der Langlebigkeit, die auch in unzähligen anderen Forschungen zur Gesundheit dargestellt wurden. Was den „Blue Zones“-Studien aber eine besondere Bedeutung gibt, ist, dass sie von sehr vielen Menschen wahrgenommen werden, weil die Lebensgeschichten und Bilder der aktiven Hundertjährigen berühren. Sie bringen uns dazu, über die eigene Gesundheit nachzudenken. Und zu erkennen, dass wir viel mehr für die Erhaltung der Gesundheit in der eigenen Hand haben, als oft vermutet wird.
Rezept für ein langes Leben
Aber wird mit den „Blue Zones“nicht ein modernes Märchen verkauft, dass Menschen aus armen Regionen alt und glücklich werden? Dabei zeigen Statistiken doch auch, dass wohlhabende Menschen eine höhere Lebenserwartung haben.
Luy: Die Menschen in höheren sozialen Schichten leben im Durchschnitt vor allem wegen derselben Lebensstil-Faktoren länger, die ich eben genannt habe. Hinzu kommt, dass sie aufgrund des höheren Bildungsabschlusses über mehr Wissen und auch die finanziellen Möglichkeiten verfügen, um besser auf sich und ihre Gesundheit zu achten. In den „Blue Zones“ leben die Menschen hingegen nicht bewusst so gesund. Sie wurden gewissermaßen in diesen Lebensstil hineingeboren. Das waren arme Regionen mit überwiegend Vieh- und Landwirtschaft, was viel körperliche Tätigkeit an der frischen Luft mit sich brachte. Sie nahmen unbehandelte Lebensmittel zu sich, weil sie nichts anderes hatten. Es gab kein Fast Food-Restaurant, das man hätte vorziehen können. Aktuelle Berichte aus den „Blue Zones“ deuten darauf hin, dass durch den zunehmenden Einfluss der modernen Gesellschaft die außergewöhnliche Langlebigkeit nun verschwunden ist. Es gibt mehr industriell gefertigte Nahrungsmittel, die Menschen fahren mit dem Auto zum Supermarkt, sie bewegen sich weniger und so weiter.
Was ist Ihrer Meinung nach das Rezept für Langlebigkeit?
Luy: Nach über 25 Jahren in der Langlebigkeitsforschung gelange ich immer mehr zu der Überzeugung, dass es den so oft gesuchten Schlüssel zu einem langen und gesunden Leben nicht gibt, der alles andere ausgleicht. Aus meiner Sicht geht es vielmehr darum, Risikofaktoren für die Gesundheit zu vermeiden. Es wird nicht genügen, zum Beispiel jeden Tag einen Apfel zu mir zu nehmen, und dafür kann ich dann rauchen, Alkohol trinken und Junkfood essen so viel ich möchte. Bei den Hochbetagten in den „Blue Zones“ können wir schön sehen, dass Verzicht auf ungesunde Verhaltensweisen ein guter Weg ist, um lange und gesund zu leben. Wie auch unsere Klosterstudie zeigt, ist das meiste eben nicht genetisch vorgegeben. Den größten Teil unserer Gesundheit und Lebenserwartung können wir durchaus selbst beeinflussen.
Auf einen Blick
Marc Luy ist Direktor des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Dort leitet er auch die Forschungsgruppe “Health and Longevity”. Er unterrichtet zudem an der Universität Wien. Eines seiner bekanntesten Forschungsprojekte ist die Deutsch-Österreichische Klosterstudie, die die Gesundheit und Langlebigkeit von Ordensleuten untersucht.