Schneller auf neue Virusvarianten reagieren
HZI-Team entwickelt Verfahren, mit dem für Immunflucht verantwortliche Mutationen schnell und sicher aufgespürt werden können
Viren sind Meister im Versteckspiel. Wird es ihnen mit unserem Immunsystem zu bunt, schicken sie neue Virusvarianten ins Spiel, die von den Immunzellen nicht mehr erkannt werden. So können sie unserem Immunsystem entkommen. Diese Immunflucht, auch Immun-Escape genannt, erreichen sie durch Mutationen. Um möglichst schnell angepasste Impfstoffe herstellen zu können, muss zunächst herausgefunden werden, welche Mutationen für den Immun-Escape einer neuen Virusvariante verantwortlich sind. Forschende des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) haben in Kooperation mit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) eine Methode namens Reverse Mutational Scanning entwickelt, mit der diese Mutationen schnell und sicher aufgespürt werden können. Die Studie ist im Fachmagazin Nature Communications erschienen.
Viren haben jede Menge Tricks auf Lager. Häufig dauert es nicht lange, dann hat sich bei Krankheitserregern wie etwa SARS-CoV-2 aus der gerade noch aktuellen Virusvariante schon wieder eine neue Variante entwickelt. Kann sie mit ihren neuen Mutationen der Immunantwort im menschlichen Körper dadurch besser ausweichen als das ursprüngliche Virus, setzt sie sich innerhalb kurzer Zeit durch und beherrscht zunehmend das Infektionsgeschehen. „Wenn die neue Virusvariante der Immunantwort erfolgreich entgehen kann, reicht es nicht mehr aus, von einer der vorherigen Varianten genesen oder mit einem vormals wirksamen Impfstoff geimpft zu sein“, sagt Prof. Luka Cicin-Sain, Leiter der Abteilung „Virale Immunologie“ am HZI. „Mit der Impfstoffentwicklung laufen wir der Verbreitung neuer Virusvarianten mit Immun-Escape immer hinterher, das liegt in der Natur der Sache. Aber den großen Vorsprung, den die Viren heute noch haben, müssen wir auch mit Blick auf künftige Pandemien dringend verkleinern.“
Um zügig angepasste Impfstoffe entwickeln zu können, ist es wichtig, möglichst schnell herauszufinden, welche Mutationen für den Immun-Escape einer neuen Virusvariante ausschlaggebend sind. Das Team um Cicin-Sain stellt in seiner aktuellen Studie dafür nun einen vielversprechenden neuen Ansatz vor. Grundlage ist ein bereits bekanntes Verfahren namens Mutational Scanning. Dabei wird ausgehend vom Ursprungsvirus untersucht, welche Auswirkungen jede einzelne Mutation einer neuen Virusvariante hat. Die Forschenden haben das Verfahren in ihrer Studie jedoch so abgewandelt, dass nicht das Ursprungsvirus die Basis ihrer Untersuchungen bildet, sondern die neue Virusvariante. Sie nutzten die Methodik quasi rückwärts, daher haben sie sie Reverse Mutational Scanning genannt.
So funktioniert Reverse Mutational Scanning
Doch wie genau funktioniert Reverse Mutational Scanning und wie ist das Forschungsteam vorgegangen? Um ihren neuen Ansatz zu testen, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beispielhaft Virusvarianten von SARS-CoV-2 untersucht. Sie wollten herausfinden, welche der 33 Mutationen, durch die sich die Virusvariante BA.2.86 von der ursprünglichen Variante BA.2 unterscheidet, für den Immun-Escape verantwortlich sind.
Mithilfe genetischer Methoden stellten die Forschenden zunächst sogenannte Pseudoviren her, die zwar in Zellen eindringen, sich aber nicht vermehren können und daher für Mensch und Umwelt ungefährlich sind. Ausgegangen sind die Forschenden von der neuen Virusvariante mit Immun-Escape, also BA.2.86. „Um herauszufinden, welche Mutationen für den Immun-Escape dieser Virusvariante verantwortlich sind, haben wir verschiedene Pseudoviren hergestellt, bei denen jeweils eine der 33 verschiedenen Mutationen rückgängig gemacht wurde, und zwar in Richtung des Ursprungsvirus BA.2“, erklärt Dr. Najat Bdeir, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Virale Immunologie am HZI und Erstautorin der Studie. In umfangreichen Zellversuchen haben die Forschenden dann untersucht, wie gut die jeweiligen Pseudoviren durch Immunzellen bekämpft werden können. Dafür nutzten sie Immunzellen „aus dem echten Leben“. „Für die Studie konnten wir Blutseren einer Kohorte von 40 Personen, die im Gesundheitsbereich tätig sind, zur Verfügung stellen“, sagt Prof. Georg Behrens von der Klinik für Rheumatologie und Immunologie der Medizinischen Hochschule Hannover. „Die Teilnehmenden waren mehrfach geimpft, unter anderem mit dem zu diesem Zeitpunkt aktuellen und gegen Omicron XBB.1.5 wirksamen Impfstoff.“
„Rückwärts bringt uns hier vorwärts!“
Mit Reverse Mutational Scanning konnten die Forschenden die für den Immun-Escape verantwortlichen Mutationen eindeutig identifizieren. Doch warum ist es wichtig, von der neuen Virusvariante auszugehen und die einzelnen Mutationen rückgängig zu machen, das Mutational Scanning „reverse“, also rückwärts anzuwenden? „Das ist wichtig, weil unsere Immunzellen so vielfältig sind. Sie können an unterschiedlichen Stellen am Virus binden, die sich teilweise auch überlappen“, erklärt Cicin-Sain. „Würden wir von der Ursprungsvariante ausgehen und eine zu testende Mutation einfügen, gibt es mit großer Wahrscheinlichkeit noch genügend andere Immunzellen, die die Ursprungsvariante des Virus trotzdem noch erkennen und ausschalten können. Der tatsächliche Beitrag, den die Mutation zum Immun-Escape leistet, kann auf diese Weise nicht hinreichend detektiert werden. Wir müssen also von der neuen Variante ausgehen und uns von dort aus rückwärts vorarbeiten – rückwärts bringt uns hier vorwärts!“
Die Forschenden hoffen, dass ihr neues Verfahren auch die künftige Impfstoffentwicklung vorwärtsbringen und beschleunigen kann. Mit Reverse Mutational Scanning könnten künftig auch andere Viren und ihre Varianten auf Immun-Escape verantwortliche Mutationen hin untersucht werden. „Denkbar wäre auch, mit dieser neuen Methode Machine-Learning-Modelle zu trainieren, um dann KI-Modelle zu entwickeln, mit denen vorhergesagt werden kann, welche potenziellen Mutationen eines Virus zu Immun-Escape führen könnten“, sagt Cicin-Sain. „Wenn auf der Basis schon vorab angepasste Impfstoffe hergestellt werden könnten, wären wir auch mal schneller als das Virus!“
Neben der Abteilung Virale Immunologie von Luka Cicin-Sain war auch die Abteilung „Struktur und Funktion der Proteine“ von Prof. Wulf Blankenfeldt an dieser Studie beteiligt. Wissenschaftler:innen des Zentrums für Individualisierte Infektionsmedizin (CiiM), des Deutschen Primatenzentrums – Leibniz-Institut für Primatenforschung und des Leibniz-Instituts DSMZ – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen sowie das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) haben die Studie ebenfalls mit ihrer Expertise unterstützt.
Text: Nicole Silbermann
Originalpublikation:
Najat Bdeir, Tatjana Lüddecke, Henrike Maaß, Stefan Schmelz, Ulfert Rand, Henning Jacobsen, Kristin Metzdorf, Upasana Kulkarni, Anne Cossmann, Metodi V. Stankov, Markus Hoffmann, Stefan Pöhlmann, Wulf Blankenfeldt, Alexandra Dopfer-Jablonka, Georg M. N. Behrens & Luka Čičin-Šain: Reverse mutational scanning of SARS-CoV-2spike BA.2.86 identifies epitopescontributing to immune escape frompolyclonal sera. Nature Communications (2025). https://doi.org/10.1038/s41467-025-55871-5
Das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung:
Wissenschaftler:innen am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) untersuchen in Braunschweig und an anderen Standorten in Deutschland bakterielle und virale Infektionen sowie die Abwehrmechanismen des Körpers. Sie verfügen über fundiertes Fachwissen in der Naturstoffforschung und deren Nutzung als wertvolle Quelle für neuartige Antiinfektiva. Als Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) betreibt das HZI translationale Forschung, um die Grundlagen für die Entwicklung neuartiger Therapien und Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten zu schaffen. www.helmholtz-hzi.de