Psychologen entschlüsseln, warum wir uns nicht selbst kitzeln können

Mathematisches Modell zeigt, wie das Gehirn sensorische Reize verarbeitet

Warum können wir uns nicht selbst kitzeln? Warum nehmen wir unsere eigenen Schritte anders wahr als die eines Fremden, der hinter uns läuft? Ein interdisziplinäres Forschungsteam aus den Bereichen Psychologie, Psychiatrie und Neurowissenschaften hat ein mathematisches Modell entwickelt, das erklärt, warum unsere Wahrnehmung bei selbst erzeugten Bewegungen abgeschwächt reagiert. Diese sogenannte sensorische Abschwächung (SA) spielt eine entscheidende Rolle in unserem Verständnis von Eigen- und Fremdwahrnehmung. „Die Erkenntnisse könnten langfristig dabei helfen, psychische Störungen wie Schizophrenie besser zu verstehen“, berichtet die Leitautorin der Untersuchung Dr. Anna-Lena Eckert. Die Studie erscheint in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „PLOS ONE“.

Einblick in die sensorische Abschwächung

Das mathematische Modell basiert auf der sogenannte Bayesianischen Kausalen Inferenz und der Graphentheorie und zeigt, dass das Gehirn ständig abwägt, ob sensorische Informationen aus einer internen oder externen Quelle stammen. Also: höre ich mich selbst oder etwas anderes. Kommt die Berührung von mir selbst oder von meinem Freund oder von einem Fremden? Das Gehirn ist fortwährend aktiv damit beschäftigt, die Ursachen von sensorischen Informationen herauszufinden.

Ist der Reiz das vorhersehbare Ergebnis einer eigenen Bewegung, wird er als „intern“ eingestuft und in der weiteren Verarbeitung herunterreguliert. „Dies erklärt, warum wir uns nicht selbst kitzeln können oder warum wir in einer dunklen Straße den Schritten einer fremden Person mehr Aufmerksamkeit schenken als unseren eigenen“, sagt die Psychologin Eckert.

Experimentelle Bestätigung durch zwei Studien

Das Modell wurde mit zwei unabhängigen experimentellen Datensätzen getestet, die in den Forschungsgruppen von Prof. Katja Fiehler und Elena Führer (Universität Gießen) und Prof. Benjamin Straube und Christina Schmitter (Universität Marburg) erhoben wurden.

In einem ersten Experiment zur taktilen Wahrnehmung strichen Versuchspersonen mit dem Finger über geriffelte 3D-gedruckte Objekte. Kurz bevor der Finger der Versuchsperson an der geriffelten Fläche ankommt, wurde ein kleiner Vibrationsreiz an dem Finger präsentiert. Dabei zeigte sich, dass die Wahrnehmung des Vibrationsreizes durch Vorhersagen des Gehirns beeinflusst wurde – „ein starker Hinweis auf sensorische Abschwächung“, kommentiert Eckert.

Das zweite Experiment nahm die visuelle Verzögerung ins Visier: Teilnehmende sahen ihre Handbewegungen auf einem Bildschirm, wobei sie die Handbewegung in manchen Fällen selbst aktiv ausführten, und manchmal ihre Hand von einem Hebel passiv bewegt wurde. In einigen Fällen wurde eine Zeitverzögerung zwischen Bewegung und dem Video der Bewegung eingefügt. Die Wahrnehmung dieser Verzögerung war geringer, wenn die Bewegung aktiv ausgeführt wurde.

Die Datensätze beider Experimente wurden mit Simulationen und Modelloptimierungen aus der Arbeitsgruppe um die theoretische Psychologin Anna-Lena Eckert abgeglichen. Die Berechnungen liefen auf Marburger Hochleistungsrechencluster MaRC3. „Die Ergebnisse zeigen eine hohe Übereinstimmung zwischen den experimentellen Daten und den Vorhersagen des Modells“, berichtet das Forschungsteam der Universitäten Marburg und Gießen.

Bedeutung für das Verständnis psychischer Erkrankungen

Sensorische Abschwächung (SA) spielt nicht nur eine Rolle in der alltäglichen Wahrnehmung, sondern könnte auch erklären, warum manche Menschen mit psychischen Erkrankungen Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Handlungen korrekt zuzuordnen. Insbesondere bei Schizophrenie könnte eine veränderte SA dazu beitragen, dass Betroffene das Gefühl haben, fremdgesteuert zu sein oder ihre eigenen Bewegungen nicht als selbst verursacht wahrnehmen. „Das entwickelte Modell könnte zukünftig helfen, neue diagnostische und therapeutische Ansätze zu entwickeln,“ schließt der Marburger Psychologieprofessor Dominik Endres aus den Ergebnissen. Endres leitet die Arbeitsgruppe „Theoretische Kognitionswissenschaft“ an der Uni Marburg.

Ein interdisziplinäres Gemeinschaftsprojekt

Das Projekt wurde im Rahmen des Clusterprojekts The Adaptive Mind durchgeführt und ist ein Beispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachdisziplinen. Die experimentellen Datensätze stammen aus den Arbeitsgruppen von Prof. Katja Fiehler (Universität Gießen) und Prof. Benjamin Straube (Universität Marburg), während Prof. Dominik Endres (Universität Marburg) und Dr. Anna-Lena Eckert das mathematische Modell entwickelten und auf die Daten optimierten.

Originalpublikation: Anna-Lena Eckert et al, Modelling sensory attenuation as Bayesian causal inference across two datasets (2024), PLOS ONE, DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0317924