Tag der Seltenen Erkrankungen am 28. Februar 2023 – bei Hufgeklapper auch mal an Zebras denken!
Ca. 4,8 Millionen Menschen leben in Deutschland mit einer seltenen Erkrankung, von denen es insgesamt über 8.000 gibt. Bis zur richtigen Diagnose vergehen oft Jahre, was mit einem langen Leidensweg für die Betroffenen verbunden ist. Bei 80% der seltenen Erkrankungen ist das Nervensystem beteiligt, daher setzt sich die Deutsche Gesellschaft für Neurologie zum Tag der Seltenen Erkrankung am 28. Februar für bessere Versorgungsstrukturen, Weiterbildung und mehr Forschung ein, vermeldet aber auch Erfolge: Es ist gelungen, fast die Hälfte aller seltenen neurologischen Erkrankungen aufzuklären, vor zehn Jahren waren es gerade einmal 5%.
Wer auf dem Ponyhof arbeitet und Hufgeklapper hört, denkt nicht an Zebras, sondern an das Naheliegende: Ponys. Genauso geht es Ärztinnen und Ärzten. Stellen sich ihnen Menschen mit Symptomen vor, die von anderen Krankheitsbildern gut bekannt sind, führt die Erfahrung manchmal vorschnell zu einer Diagnose bzw. Fehldiagnose. Beispiel Morbus Fabry: In 39% der Fälle wird zunächst die Diagnose einer rheumatischen Erkrankung gestellt, in 15% der Fälle lautete die Erstdiagnose Arthritis, in 7% Fibromyalgie und bei 13% der Betroffenen wird das Leiden als psychosomatisch eingestuft [1]. Fehldiagnosen sind bei seltenen Erkrankungen an der Tagesordnung und werden schätzungsweise bei 40% der Betroffenen gestellt. Sie führen zu Fehlbehandlungen, die die Situation natürlich nicht verbessern und häufig noch verschlechtern. Der Leidensweg der Betroffenen ist lang – im Durchschnitt dauert es über drei Jahre, bis eine seltene Erkrankung richtig diagnostiziert wird.
Es gibt allein 8.000 seltene Erkrankungen; 80% präsentieren sich mit neurologischen Symptomen. Die Herausforderung für die Ärztinnen/Ärzte ist groß: Erschwerend zur hohen Zahl seltener Erkrankungen kommt hinzu: Seltene Erkrankungen sind häufig komplex, meist sind mehrere Organsysteme beteiligt. Symptome überlagern sich, sind variabel, verändern sich also im Laufe der Zeit oder sind von Patient zu Patient unterschiedlich, auch lassen sich Haupt- und Nebensymptome nur schwer differenzieren. Im klinischen Alltag fehlt es oft an Leitlinien, Diagnosekriterien und interdisziplinärer Vernetzung.
„Gerade vor dem Hintergrund seltener Erkrankungen ist es wichtig, bei der Diagnosestellung breit zu denken und genau hinzuschauen. Dafür ist eine umfassende Anamnese erforderlich sowie eine dezidierte körperliche Untersuchung. Passt auch nur eines der Symptome nicht in das Spektrum einer bekannten Erkrankung, sollte man genau dies nicht ignorieren, sondern vielmehr darauf das Augenmerk richten. Man würde ja auch nicht bei einem Zebra das Streifenmuster ignorieren und sagen, es sei ein Pony“, erklärt Prof. Dr. Peter Berlit Generalsekretär und Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Er hebt insbesondere die Bedeutung der Familienanamnese hervor und betont: „80% der Diagnosen lassen sich allein dadurch klären!“
Der Experte verweist auf mögliche Hilfsmittel im Internet. Das Tool FindZebra [2] hilft bei der Diagnose seltener Erkrankungen; bereits vor zehn Jahren zeigte eine Studie, dass es in 62,5% der Fälle die richtige Diagnose unter den ersten zehn Ergebnissen listet [3]. Aber das macht die neurologische Expertise nicht obsolet. „Nur, wer die Symptome korrekt untersucht und die Fragen der Anamnese richtig stellt, kann die Chancen der künstlichen Intelligenz auch zielführend nutzen“, so Berlit. Als Fachgesellschaft baut die DGN daher auf die Fort- und Weiterbildung, bietet Seminare und Workshops zu seltenen Erkrankungen an und sorgt durch die DGN-Skillslabs dafür, dass auch der Nachwuchs in den diagnostischen Fertigkeiten der Neurologie geschult ist.
Im Hinblick auf die Erforschung neuer Therapien für seltene Erkrankungen zeigt sich der Experte optimistisch. „Der neurologischen Forschung ist es gelungen, fast die Hälfte aller seltenen neurologischen Erkrankungen aufzuklären, vor zehn Jahren waren es gerade einmal 5%. Auch konnten durch das Verständnis der Pathomechanismen zielgerichtete Therapien entwickelt und echte Therapiedurchbrüche erzielt werden.“ Als Beispiel führt Prof. Berlit die Entwicklung erster neurogenetischer Therapieansätze an, z.B. die Antisense-Oligonukleotid-Therapie bei spinaler Muskelatrophie. „Gerade aus dem Bereich der Neurogenetik werden viele neue Behandlungsansätze für seltene Erkrankungen kommen, da etwa 80% dieser Krankheiten einen genetischen Hintergrund haben.“
Dank der Arbeit verschiedener Verbünde, wie der Deutschen Akademie für Seltene Neurologische Erkrankungen (DASNE), sei die Versorgung der Betroffenen bereits besser geworden. Die Akademie fördert die Bündelung und kontinuierliche Weiterentwicklung von Expertise im Bereich seltener neurologischer Erkrankungen durch den Zusammenschluss deutscher Expertenzentren. Praktische Probleme im klinischen Alltag seien aber, dass seltene Erkrankungen oft noch ungenügend verschlüsselt werden, es häufig Erstattungsrestriktionen beim MDK gibt und Spezialsprechstunden oft nicht flächendeckend ausgebaut sind. „Hier muss noch viel getan werden“, resümiert der DGN-Generalsekretär. Abschließend äußert er die Hoffnung, dass die deutschlandweit ab diesem Jahr vorgesehene Verwendung von ORPHAcodes für die spezifische Erfassung von seltenen Erkrankungen [4] auch zu einer Verbesserung der Situation der hier Betroffenen durch schnellere Diagnose führen wird. „Das derzeitige System gibt zu wenig Spielräume für die oft aufwändige Diagnostik und erschwert Interdisziplinarität. Wir hoffen, dass die aktuellen Reformpläne diese Mankos beheben werden“, erklärt Prof. Berlit.
Literatur
[1] Mehta A, Ricci R, Widmer U, Dehout F, Garcia de Lorenzo A, Kampmann C, Linhart A, Sunder-Plassmann G, Ries M, Beck M. Fabry disease defined: baseline clinical manifestations of 366 patients in the Fabry Outcome Survey. Eur J Clin Invest. 2004 Mar;34(3):236-42. doi: 10.1111/j.1365-2362.2004.01309.x. PMID: 15025684.
[2] https://www.findzebra.com
[3] Dragusin R, Petcu P, Lioma C, Larsen B, Jørgensen HL, Cox IJ, Hansen LK, Ingwersen P, Winther O. FindZebra: a search engine for rare diseases. Int J Med Inform. 2013 Jun;82(6):528-38. doi: 10.1016/j.ijmedinf.2013.01.005. Epub 2013 Feb 23. PMID: 23462700.
[4] Bundesgesundheitsblatt 2022; 65:1133–1142
https://doi.org/10.1007/s00103-022-03598-9