DGN bedauert CHMP-Empfehlung gegen die EMA-Zulassung des ersten Alzheimer-Antikörpers in Europa
Heute hat das „Committee for Medicinal Products for Human Use“ (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) eine Empfehlung gegen die Zulassung des Antikörpers Lecanemab gegen Alzheimer abgegeben. Die Therapie kann Alzheimer zwar nicht heilen oder zum Stillstand bringen, aber das Fortschreiten der Erkrankung bei Betroffenen im Alzheimer-Frühstadium verlangsamen. Trotz vieler praktischer Limitationen der Therapie (ein sehr frühes Zeitfenster für die Therapieinitiierung, mangelnde Refinanzierung der erforderlichen Frühdiagnostik, fehlende Versorgungsstrukturen, Nebenwirkungen) bedauert die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, dass keine Empfehlung zur Zulassung erteilt wurde.
Die neuen Antikörper sind aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) ein Meilenstein, wenn auch mit Limitationen. Sie können die Alzheimer-Progression in den frühen Stadien der Erkrankung verlangsamen. Die DGN bedauert daher die Empfehlung des CHMP an die EMA, im Unterschied zu den USA, Japan, China oder Südkorea, Lecanemab gegen Alzheimer in Europa nicht zuzulassen. Damit beschreitet Europa nicht nur einen Sonderweg, sondern befördert auch eine Zweiklassenmedizin. Wer es sich leisten kann, wird das Medikament über die internationale Apotheke beziehen und sich in Deutschland verabreichen lassen.
„Die neuen Medikamente – neben Lecanemab befinden sich andere Antikörper in Zulassungsverfahren – sind ein wichtiger erster Erfolg in der Therapie der Alzheimer-Krankheit“, erklärt Prof. Dr. Jörg B. Schulz, Aachen, Sprecher der DGN-Kommission Kognitive Störungen und Demenzen. Wie der Experte betont, kann die Therapie das Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung noch nicht heilen oder zum Stillstand bringen, auch ist sie nicht nebenwirkungsfrei. „Dennoch, ein Teil der Betroffenen könnte bereits jetzt profitieren und die Therapien sind ein Etappenziel auf dem Weg, Alzheimer für alle Betroffenen therapierbar, eines Tages vielleicht sogar heilbar machen zu können. Wir bedauern, dass nun keine Real-Life-Daten erhoben und Erfahrungen mit der neuen Therapie gesammelt werden können.“
„Die Zulassung des ersten Alzheimer-Antikörpers in Europa wäre in der Tat ein richtiger Schritt, auch wenn der erhoffte Durchbruch in der Alzheimer-Therapie damit noch nicht erreicht wäre“, stellt auch DGN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit fest. Auch hätte sie dazu geführt, dass sich Politik und Gesellschaft dringend mit den offenen Fragen auseinandersetzen und wichtige Entscheidungen im Hinblick auf die Infrastruktur der Frühdiagnostik und Versorgung hätten fällen müssen. „Wir befürchten, dass diese wichtigen gesundheitspolitischen Weichenstellungen nun auf die lange Bank geschoben werden.“
Welche Herausforderungen sind gemeint?
- Sensibilisierung für Frühsymptome
Lecanemab sowie die anderen Alzheimer-Antikörper, die vor der Zulassung stehen, müssen in einem Frühstadium der Alzheimer-Erkrankung eingesetzt werden, wenn milde kognitive Beeinträchtigungen oder allenfalls eine leichte Demenz vorliegen. „Das ist ein Zeitpunkt, zu dem derzeit ein Großteil der Betroffenen noch gar nicht diagnostiziert wird. Hier wäre eine Sensibilisierung für Frühsymptome und ein Umdenken in der Bevölkerung und auch bei Ärztinnen und Ärzten nötig“, so Prof. Schulz. - Unzureichende Refinanzierung der Frühdiagnostik
Ein praktisches Problem ist, dass die neuen Antikörper nur verschrieben werden dürfen, wenn die gesicherte Diagnose einer beginnenden Alzheimer-Erkrankung besteht. „Das ist richtig und wichtig, denn Demenz ist nicht mit der Alzheimer-Erkrankung gleichzusetzen, es gibt zahlreiche andere Krankheiten, die zu einer Demenz führen, bei denen die Antikörper aber nicht wirken würden“, erklärt Prof Schulz. Für die Verschreibung muss daher eine Amyloid-Pathologie nachgewiesen werden, entweder mit einer Nervenwasseranalyse oder einer Positronen-Emissions-Tomographie (PET)-Untersuchung. Derzeit werden diese Untersuchungen aber nicht ausreichend refinanziert. „Für das Amyloid-PET gibt bislang nicht einmal eine Abrechnungsziffer und die Nervenwasserdiagnostik ist derzeit unterfinanziert, d. h. für neurologische Praxen nicht kostenneutral. Derzeit stellt es sich also so dar, dass es hier um eine Therapie geht, deren Verschreibung eine Frühdiagnostik erforderlich macht, diese aber nicht – oder nur unzureichend – von den Krankenkassen übernommen wird. Das System hat hier einen Haken, der potenziellen Kandidaten den rechtzeitigen Zugang zur Therapie erschwert, wenn nicht gar verwehrt“, kritisiert Dr. Uwe Meier, erster Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Neurologen (BDN) und weist auf einen weiteren Punkt hin: „Für die Therapie müssen die Behandlungskapazitäten ausgeweitet werden, hier sind Investitionen in Räumlichkeiten, Infusionsliegen und Personal erforderlich. Dies braucht eine neue Vergütungssystematik, um den Versorgungsauftrag sicherstellen zu können.“ - Begrenzte Versorgungskapazitäten
Alzheimer ist eine Volkskrankheit. Jährlich erkranken etwa 440.000 Menschen in Deutschland neu an einer Demenz, bei ca. 260.000–300.000 liegt eine Alzheimer-Krankheit vor. Entsprechend viele Menschen kommen für eine Therapie mit einem Alzheimer-Antikörper in Betracht, zumindest, wenn die Frühdiagnostik allen Menschen zugänglich gemacht wird, was DGN und BDN allein aus ethischen Gründen fordern. Lecanemab muss alle zwei Wochen unter fachärztlicher Aufsicht in die Vene infundiert werden, hinzu kommt die notwendige, turnusmäßige Bildgebung. „Wir laufen hier in einen Versorgungsengpass. Für die Diagnostik und Behandlung aller in Frage kommender Personen sind die derzeitigen Versorgungsstrukturen nicht ausgelegt“, erklärt DGN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit. „Es ist jetzt Aufgabe der Gesundheitspolitik, entsprechende Versorgungskapazitäten zu schaffen.“ - Stärkung der Prävention
Wie kann eine entsprechende Frühdiagnostik angeboten und wie können die Kosten für die Diagnostik und Therapie gestemmt werden, ohne dass das System kollabiert? „Wir suchen hier das Gespräch mit der Gesundheitspolitik, müssen aber sicherlich auch auf das Potenzial der Prävention setzen. Denn allein bis zu 40 Prozent aller Demenzen könnten durch einen gesunden Lebensstil und die Korrektur von Risikofaktoren verhindert werden. Und nicht nur das: Das Fortschreiten der Erkrankung kann durch entsprechende Präventionsmaßnahmen in einem ähnlichen Maße verlangsamt werden wie unter der Antikörper-Therapie. Dieses Potenzial muss voll ausgeschöpft werden“, erklärt Prof. Berlit.
Auch wenn nun eine schnelle Zulassung von Lecanemab nicht zu erwarten ist, müssen diese Fragen aus Sicht der DGN und des BND aktiv angegangen werden. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis neue Therapien folgten und das System vor die gleichen Herausforderungen stellten.