Sensationelle Beobachtung: Einfache modifizierte Aminosäure stoppte das Auftreten der Parkinson-Krankheit im Vorstadium
Eine internationale Arbeitsgruppe unter der Federführung der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Marburg (Prof. Wolfgang Oertel) in Kooperation mit der Klinik für Neurologie an der LMU München (Prof. Michael Strupp) publizierte heute zwei beeindruckende Patientenfälle: Die Therapie mit der modifizierten Aminosäure Acetyl-DL-Leucin konnte in beiden Fällen in einem Vorstadium der Parkinson-Krankheit das Fortschreiten über 22 Monate unterbinden, einige Krankheitsmarker besserten sich sogar. Es handelt sich um erste Beobachtungen, die keinen Anspruch auf hohe Evidenz haben. Die Ergebnisse sind aber so eindrucksvoll, dass zügig klinische Studien folgen werden.
Heute wurde in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Communications“ eine Arbeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Marburg, München, Groningen, Amsterdam und Chicago veröffentlicht, die auch international für großes Aufsehen sorgen wird. Beschrieben werden dort zwei Fallberichte, in denen die modifizierte Aminosäure Acetyl-DL-Leucin erfolgreich das Auftreten einer manifesten Parkinson-Krankheit verhinderte. Wesentliche Krankheitsmarker gingen nach Gabe von Acetyl-DL-Leucin (ADLL) zurück. „Das ist so ungewöhnlich, das habe ich während meines ganzen bisherigen ärztlichen Berufs- und Forscherlebens noch nicht gesehen“, erklärte Prof. Dr. Wolfgang Oertel, Leiter der Studie, Parkinson-Experte und Hertie Senior Forschungsprofessor am Universitätsklinikum Marburg.
Zwei Personen (eine weiblich, eine männlich) mit einer isolierter REM-Schlafverhaltensstörung (iRBD) wurden 22 Monate lang mit 5 g ADLL pro Tag behandelt. Die Traum-Schlafstörung iRBD gilt als Vorläufer einer Parkinson-Krankheit. Wer an einer iRBD leidet, hat ein Risiko von mehr als 85 Prozent (und damit ein 130-fach höheres Risiko), in den folgenden 10 bis 15 Jahren an der Parkinson-Krankheit oder einer Lewy-Körperchen-Demenz (einer Variante der Parkinson-Krankheit) zu erkranken. Nur etwa 15 Prozent der von iRBD Betroffenen entwickeln diese neurodegenerativen Erkrankungen nicht. In der Wissenschaft gilt daher die iRBD als Frühsymptom (prodromales Zeichen) der Parkinson-Krankheit. „Dass die beiden Betroffenen wahrscheinlich nicht zu den 15 Prozent der ‚Glücklichen‘ gehörten, die dieses Schicksal nicht ereilt hätte, wissen wir aus den Voruntersuchungen: Die Dopamin-Transporter SPECT („Single Photon Emission Computerized Tomography“)-Untersuchung zeigte bei beiden bereits eindeutig vor der Behandlung mit ADLL einen pathologischen Befund. Auch litten beide schon unter einer Riechstörung (Anosmie), einem weiteren Parkinson-Frühsymptom“, erläutert Prof. Dr. Lars Timmermann, Direktor der Neurologie an der Uniklinik Marburg und Ko-Autor der Studie. „Das wirklich Eindrucksvolle an den beiden Fallberichten ist, dass die neurodegenerativen Veränderungen hin zu einer klinisch manifesten Parkinson-Krankheit nicht nur verlangsamt werden konnten, sondern dass sich die Krankheitszeichen in der Bildgebung unter der Behandlung sogar zurückbildeten“, ergänzt Dr. Annette Janzen, Ko-Autorin und Oberärztin an der Marburger Klinik. Und Prof. Dr. Michael Strupp, Senior-Autor der Publikation, von der Klinik für Neurologie der LMU München betont: „Das leistet bisher noch kein einziger Therapieansatz. Und wir reden hier über eine einfache und gut verträgliche modifizierte Aminosäure. Seit geraumer Zeit weiß man, dass Acetyl-L-Leucin auch bei anderen neurodegenerativen Krankheiten wie z. B. der Niemann-Pick-Krankheit Typ C, einer Erkrankung des lysosomalen Systems, einen günstigen Effekt besitzt. Und diesen Befund konnten wir kürzlich in einer Phase-3 Studie bestätigen [2].“
Folgende drei Kriterien wurden in der aktuellen Publikation, untersucht: 1) der Schweregrad der REM-Schlafverhaltensstörung (RBD-SS-3), 2) die Dopamin-Transporter-Einzelphotonen-Emissions-Computertomographie (DAT-SPECT als Maß für den Verlust der dopaminergen Fasern von der Substantia nigra zum Streifenkörper) und 3) der metabolische „Parkinson’s Disease-related-Pattern (PDRP)“-z-Score in der 18F-Fluorodesoxyglucose-Positronen-Emissions-Tomographie (FDG-PET – als Maß für Parkinson-typische pathologische Hirnaktivität). Bereits nach drei Wochen der Behandlung sank der RBD-SS-3-Wert bei beiden Studienteilnehmenden deutlich ab und blieb über die 18 Monate der ADLL-Behandlung reduziert. Bei Patientin 1 war die sog. DAT-SPECT Putaminal Binding Ratio (PBR) in den fünf Jahren vor der Behandlung von normal (1,88) auf pathologisch (1,22) gesunken und der FDG-PET-PDRP-z-Score von 1,72 auf einen krankhaften Wert von 3,28 gestiegen. Nach 22 Monaten ADLL-Behandlung verbesserte sich der DAT-SPECT-PBR auf 1,67 als Hinweis auf Erholung des dopaminergen Systems und der FDG-PET-PDRP-z-Score lag bei 3,18 als Zeichen der Stabilisierung der Hirnaktivität. Ähnliche Ergebnisse wurden bei Patient 2 beobachtet: Sein DAT-SPECT-PBR stieg von einem Vorbehandlungswert von 1,42 auf einen fast normalen Wert von 1,72 und der FDG-PET-PDRP-z-Score sank nach 18 Monaten ADLL-Behandlung von 1,02 auf 0,30 als Zeichen des Rückgangs der Parkinson-typischen pathologischen Hirnaktivität.
Wie wirkt Acetyl-Leucin ?
Zu den Wirkmechanismen von Acetyl-DL-Leucin gehören zwei Effekte: 1) auf das lysosomale System und 2) auf die „Zellatmung“, also den Energiestoffwechsel der Zellen. In jeder Zelle wird aus der mit der Nahrung zugeführten Substanz Glukose in Anwesenheit von Sauerstoff in den Mitchondrien (den „Zellkraftwerken“) der entscheidende Energieträger der Zelle, das Adenosin-Tri-Phosphat (ATP), hergestellt. Ohne ausreichende Mengen von ATP können Zellfunktionen nicht aufrechterhalten werden. Wie eine biochemische Arbeit zeigt, erhöht Acetyl-L-Leucin die Produktion von ATP [3]. Störungen des lysosomalen Systems sind bei der Parkinson-Krankheit im Gehirn beschrieben und jüngste Ergebnisse der Ko-Autoren Dr. Geibl und Dr. Henrich [4] in einem Mausmodell des prodromalen Stadiums der Parkinson-Krankheit zeigen, dass im Frühstadium sowohl der Energiehaushalt als auch die lysosomale Funktion in den geschädigten dopaminergen Neuronen stark beeinträchtigt ist. Das ist umso mehr ein Grund, Acetyl-DL-Leucin mit seinem dualen Wirkmechanismus bei Patientinnen und Patienten mit isolierter REM-Schlafverhaltensstörung einzusetzen.
Bei den beiden iRBD-Patienten kam das Medikament Acetyl-DL-Leucin zum Einsatz. Chemisch liegt Acetyl-Leucin in zwei Formen vor: als Acetyl-D-Leucin (D steht für „das Licht nach rechts drehend“) und als Acetyl-L-Leucin (L-steht für „das Licht nach links drehend“). Die Mischung von beiden Formen, von Acetyl-D-Leucin und Acetyl-L-Leucin, wird als Acetyl-DL-Leucin (ADLL) bezeichnet. Und nur diese Mischung ADLL stand für den individuellen OFF-Label Einsatz (Heilversuch) bei den oben beschriebenen zwei Patienten mit iRBD als Medikament zur Verfügung. Aus der Grundlagenforschung an Tiermodellen gibt es aktuelle Hinweise, dass von dem Gemisch ADLL nur die L-Form, also Acetyl-L-Leucin, wirksam ist. Zukünftige Studien werden demnach vorzugsweise mit Acetyl-L-Leucin [2] durchgeführt werden.
Was sind die Schlussfolgerungen? „Wir sehen Hinweise dafür, dass Acetyl-DL-Leucin das Fortschreiten der Erkrankung verhindern kann. Die Parkinson-typischen Muster in der Bildgebung sind sogar reversibel – und es scheint: je besser die Ausgangswerte oder je leichter ausgeprägt die Krankheitswerte zu Behandlungsbeginn, desto effektiver ist möglicherweise die Therapie. Wir müssen betonen, dass es sich bisher nur um zwei Patientenbeschreibungen handelt, mit allen Limitationen wie Nicht-Verblindung, fehlende Placebogruppe etc. Randomisierte Placebo-kontrollierte Langzeitstudien sind in Planung. Was uns optimistisch stimmt und besonders fasziniert, sind die Bildgebungsdaten, da die Verbesserung der Hirnpathologie nicht mit einem Placebo-Effekt erklärt werden kann“, erläutert Prof. Oertel.
Viele Errungenschaften in der Medizin gehen auf Zufallsbeobachtungen zurück, wie z. B. die Entdeckung des Penicillins. Bestätigen große klinische Studien das, was hier an zwei Patienten beobachtet werden konnte, nämlich dass Acetyl-DL-Leucin eine beginnende Parkinson-Krankheit zum Stillstand bringen kann, stellt diese Entdeckung einen bedeutsamen Meilenstein in der Medizingeschichte dar. „Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg und wir müssen bei aller Euphorie besonnen bleiben und möglichst schnell kontrollierte Studien auflegen, die evidenzgebend sind“, mahnt Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
Das Projekt wurde vom ParkinsonFonds Deutschland, der Stichting ParkinsonFonds, Niederlande, sowie über die Hertie-Senior-Forschungsprofessur von Prof. Oertel gefördert.
[1] Oertel, W.H., Janzen, A., Henrich, M.T. et al. Acetyl-DL-leucine in two individuals with REM sleep behavior disorder improves symptoms, reverses loss of striatal dopamine-transporter binding and stabilizes pathological metabolic brain pattern—case reports. Nat Commun 15, 7619 (2024). https://doi.org/10.1038/s41467-024-51502-7
[2] Bremova-Ertl T, Ramaswami U, Brands M, Foltan T, Gautschi M, Gissen P, Gowing F, Hahn A, Jones S, Kay R, Kolnikova M, Arash-Kaps L, Marquardt T, Mengel E, Park JH, Reichmannova S, Schneider SA, Sivananthan S, Walterfang M, Wibawa P, Strupp M, Martakis K. Trial of N-Acetyl-l-Leucine in Niemann-Pick Disease Type C. N Engl J Med. 2024;390(5):421-43 https://www.nejm.org/doi/10.1056/NEJMoa2310151
[3] Kaya E, Smith DA, Smith C, Morris L, Bremova-Ertl T, Cortina-Borja M, Fineran P, Morten KJ, Poulton J, Boland B, Spencer J, Strupp M, Platt FM. Acetyl-leucine slows disease progression in lysosomal storage disorders. Brain Commun. 2020 Dec 20;3(1):fcaa148. doi: 10.1093/braincomms/fcaa148. PMID: 33738443; PMCID: PMC7954382.
[4] Geibl FF, Henrich MT, Xie Z, E, Tkatch T, Wokosin DL, Nasiri E, Grotmann CA, Dawson VL, Dawson TM, Chandel NS, Oertel WH, Surmeier DJ. α-Synuclein pathology disrupts mitochondrial function in dopaminergic and cholinergic neurons at-risk in Parkinson’s disease. bioRxiv [Preprint]. 2023 Dec 11:2023.12.11.571045. doi: 10.1101/2023.12.11.571045. PMID: 38168401