Vorübergehende Krise, Typsache oder echte Störung: Wer benötigt Psychotherapie?
Wer sich in Deutschland derzeit um eine Psychotherapie bemüht, wartet im Schnitt 20 Wochen auf den ersten Termin. Die Nachfrage übersteigt das Angebot deutlich, obwohl sich die Zahl der in entsprechenden Praxen tätigen Therapeut:innen von 2006 auf 2021* mehr als verdoppelt hat. Psycholog:innen der Universität Duisburg-Essen sehen einen möglichen Grund dafür in einer „Diagnosekultur“ und einer überbordenden Sensibilisierung der Gesellschaft, in der Persönlichkeitsunterschiede und vorübergehende seelische Krisen zunehmend pathologisiert werden. So erhalten behandlungsbedürftige Menschen mitunter keine oder erst späte Hilfe. Die Autor:innen schlagen eine alternative Herangehensweise vor.
Prof. Dr. Marcus Roth aus der Differentiellen Psychologie sowie Prof. Dr. Gisela Steins aus der Allgemeinen Psychologie und Sozialpsychologie der Universität Duisburg-Essen (UDE) sind sich der Brisanz ihrer Aussagen durchaus bewusst. „Doch wenn wir das Thema jetzt nicht diskutieren, wird es eine sehr harte Diskussion, wenn die Kassen aufgrund des demographischen Wandels leerer sind“, konstatiert Roth.
Nach Daten des Robert-Koch-Instituts haben im Mittel 27,8 Prozent der Erwachsenen in Deutschland eine psychische Störung. Warum sinkt diese Zahl trotz vermehrter Behandlungsangebote seit Jahren nicht? Die Autor:innen stellen in ihrer gemeinsamen Veröffentlichung eine These auf: In der Praxis werden möglicherweise oft Störungen behandelt, die bei genauerer Betrachtung keine sind. So stellt die „Anpassungsstörung“ bei den Psychologischen Psychotherapeut:innen die Hauptdiagnose dar – eine erheblich die Lebensqualität beeinträchtigende Reaktion auf ein zurückliegendes oder bestehendes Ereignis.
Doch sind Krisen durch kritische Lebensereignisse immer diagnosebedürftig? „Jeder zweite verheiratete Mensch wird den Verlust des Partners oder der Partnerin erleben müssen; fast alle den Tod der Eltern“, konkretisiert Roth. Tragische Ereignisse wie diese gehen mit Trauer und Belastungen einher, sind aber Teil des Lebens und in der Regel nach etwa sechs Monaten überwunden oder deutlich verbessert.
Hinzu kommt die zunehmende Sensibilisierung der Gesellschaft für psychische Symptome. Während die Autor:innen es begrüßen, dass psychotherapeutische Maßnahmen heute kein Tabu mehr darstellen, könne diese Einstellung auch dazu führen, dass Menschen dazu tendierten, Krisen auf psychische Syndrome zurückzuführen und nicht auf belastende Ereignisse oder eine Bandbreite des „Normalen“: Wo endet nach einem Verlust zu erwartende Trauer, wo beginnt eine Depression? Wann ist außergewöhnliches Verhalten reine Charaktereigenschaft, wann behandlungsbedürftig?
Roth und Steins schlagen einen alternativen Pfad vor, der die Solidargemeinschaft weniger belastet und gleichzeitig Therapieplätze schafft für diejenigen, die sie aufgrund ihrer klinischen Symptomatik dringend benötigen: Erwachsene, die unter psychischen Beeinträchtigungen leiden, aber nicht unbedingt eine Psychotherapie benötigen, sollten niedrigschwellige Angebote erhalten wie zum Beispiel Coachingsitzungen, Beratungen, Selbsthilfegruppen oder Online-Angebote.
„Wir sollten mehr darauf vertrauen, dass Normalität verschiedene Facetten haben kann, wie wir es ohnehin derzeit unter dem Begriff der ‚Diversität‘ diskutieren“, schließt Roth.
* Aktuellste verfügbare Daten.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000678