Reizdarmsyndrom: Anhand der Gene vorhersagen, ob eine Ernährungsumstellung helfen kann
Europäische Studie zeigt, dass genetische Defekte des Kohlenhydratabbaus beeinflussen, inwieweit Betroffenen mit Reizdarmsyndrom von einer Ernährungsumstellung profitieren. Publikation in Clinical Gastroenterology & Hepatology.
Das Reizdarmsyndrom (engl. „irritable bowel syndrome“, IBS) ist eine Verdauungsstörung, die durch Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall oder Verstopfung gekennzeichnet ist. Sie betrifft bis zu 10% der Weltbevölkerung. Trotz seiner Häufigkeit bleibt die Behandlung des Reizdarmsyndroms eine Herausforderung, da die Symptome und das Ansprechen auf diätetische oder pharmakologische Maßnahmen sehr unterschiedlich sind. Ein europäisches Forschungsteam unter Beteiligung von Mitgliedern des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) hat nun gezeigt, dass bei IBS-Patientinnen und -Patienten mit Defekten in Genen der Kohlenhydratverdauung ernährungsbezogene Maßnahmen wirksamer sind, als bei Betroffenen ohne diese Veränderungen. Ihre Ergebnisse haben sie in der Fachzeitschrift Clinical Gastroenterology & Hepatology veröffentlicht.
IBS-Patientinnen und -Patienten bringen ihre Symptome häufig mit dem Verzehr bestimmter Lebensmittel, insbesondere von Kohlenhydraten, in Verbindung. Der Verzicht auf diese Lebensmittel hat sich als wirksame Behandlungsoption erwiesen, aber nicht alle Betroffenen ziehen den gleichen Nutzen daraus. Die Nutrigenetik, also die Wissenschaft, die die kombinierte Wirkung von Genetik und Ernährung auf die menschliche Gesundheit untersucht, hat aufgezeigt, wie sich Veränderungen in der DNA auf die Art und Weise auswirken können, wie wir Lebensmittel verarbeiten. Ein bekanntes Beispiel ist die Laktoseintoleranz, bei der der Funktionsverlust des Enzyms Laktase die Verdauung von Milcherzeugnissen behindert. Die nun veröffentlichte Arbeit legt nahe, dass genetische Veränderungen in Enzymen des menschlichen Kohlenhydratabbaus („human carbohydrate-active enzymes“, hCAZymes) in ähnlicher Weise beeinflussen können, wie Menschen mit Reizdarmsyndrom auf eine kohlenhydratreduzierte (low-FODMAP) Ernährung reagieren.
Forschungsarbeiten mit Beteiligung des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, haben die Rolle der hCAZymes in Bezug auf das Reizdarmsyndrom untersucht. In einem groß angelegten europäischenForschungsverbund, dem GenMalCarb-Konsortium konnte das Team nun zeigen, dass Personen mit defekten Varianten in hCAZyme-Genen eher von einer kohlenhydratreduzierten Ernährung profitieren. In der Studie, an der 250 Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom teilnahmen, wurden zwei Behandlungen miteinander verglichen: eine Ernährung mit wenig fermentierbaren Kohlenhydraten (FODMAPs) und das krampflösende Medikament Otiloniumbromid. Von den 196 Betroffenen, die an der low-FODMAP-Ernährung teilnahmen, zeigten diejenigen, die Träger eines defekten hCAZyme-Gens waren, eine deutliche Verbesserung im Vergleich zu den Nicht-Trägern. Die Wirkung war besonders ausgeprägt bei Betroffenen mit überwiegend diarrhöischem Reizdarmsyndrom (IBS-D), sie sprachen sechsmal häufiger auf die Diät an. Im Gegensatz dazu wurde dieser Unterschied bei Patientinnen und Patienten, die Medikamente erhielten, nicht beobachtet.
„Die hCAZyme-Enzyme haben eine Schlüsselrolle bei der Verdauung von Kohlenhydraten. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass genetische Varianten dieser Enzyme zu kritischen Markern für die Entwicklung personalisierter ernährungsbasierter Behandlungen für das Reizdarmsyndrom werden könnten“, sagt Dr. Britt Sabina Löscher vom IKMB, Ko-Autorin der Studie und Mitglied im Exzellenzcluster PMI. „In Zukunft könnte also die Kenntnis des hCAZyme-Genotyps in die klinische Praxis einfließen und es den Ärztinnen und Ärzten ermöglichen, im Voraus zu erkennen, welche Patientinnen und Patienten am ehesten von spezifischen Ernährungsmaßnahmen profitieren.“
Dies würde nicht nur unnötige restriktive Diäten für diejenigen vermeiden, die wahrscheinlich nicht davon profitieren, sondern auch die Tür zur personalisierten Medizin beim Reizdarmsyndrom öffnen. Das Forscherteam betont, dass weitere Studien erforderlich sind, um diese Ergebnisse zu validieren und die biologischen Mechanismen zu ergründen, die dabei eine Rolle spielen. Wenn sich dieser Ansatz bestätigt, könnte er die Behandlung des Reizdarmsyndroms und ähnlicher gastrointestinaler Erkrankungen erheblich verbessern, indem er Ernährungs- und Therapiestrategien präziser und wirksamer macht.
An der Studie waren Forschende und Klinikerinnen und Kliniker aus Spanien (CIC bioGUNE), Italien (Universität LUM und Universität Neapel), Deutschland (IKMB und Universität Hannover), Belgien (TARGID) und dem Vereinigten Königreich (Universität Nottingham) beteiligt. Die Studie wurde von der spanischen Regierung MCIN/AEI/10. 13039/501100011033 (PCI2021-122064-2A), dem deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF (01EA2208B und 01EA2208A) und dem Medical Research Council MRC (MR/W031213/1), unter dem Dach der europäischen Joint Programming Initiative „A Healthy Diet for a Healthy Life“ (JPI HDHL) und des ERA-NET Cofund ERA-HDHL (GA N° 696295 des EU Horizon 2020 Research and Innovation Programme), der spanischen Regierung MCIN/AEI/10. 13039/501100011033 (PID2020-113625RB-I00), der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (NA331/13-1 und 390884018) und des belgischen Health Care Knowledge Centre (ref number: 16001) gefördert.
Der Exzellenzcluster „Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen/Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) wird von 2019 bis 2025 durch die Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert (ExStra). Er folgt auf den Cluster Entzündungsforschung „Inflammation at Interfaces“, der bereits in zwei Förderperioden der Exzellenzinitiative (2007-2018) erfolgreich war. An dem neuen Verbund sind rund 300 Mitglieder in acht Trägereinrichtungen an vier Standorten beteiligt: Kiel (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Muthesius Kunsthochschule, Institut für Weltwirtschaft und Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik), Lübeck (Universität zu Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein), Plön (Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie) und Borstel (Forschungszentrum Borstel – Leibniz Lungenzentrum).
Ziel ist es, die vielfältigen Forschungsansätze zu chronisch entzündlichen Erkrankungen von Barriereorganen in ihrer Interdisziplinarität verstärkt in die Krankenversorgung zu übertragen und die Erfüllung bisher unbefriedigter Bedürfnisse von Erkrankten voranzutreiben. Drei Punkte sind im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Behandlung wichtig und stehen daher im Zentrum der Forschung von PMI: die Früherkennung von chronisch entzündlichen Krankheiten, die Vorhersage von Krankheitsverlauf und Komplikationen und die Vorhersage des individuellen Therapieansprechens.
Originalpublikation:
Andreea Zamfir-Taranu et al.: Functional variation in human CAZyme genes in relation to the efficacy of a carbohydrate-restricted diet in IBS patients. Clin Hepatol Gastroenterol, 2024. https://doi.org/10.1016/j.cgh.2024.09.004