Alzheimer-Update: Stand der Antikörper-Zulassung

Mitte November wird das „Committee for Medicinal Products for Human Use“ (CHMP) der europäischen Arzneizulassungsbehörde EMA erneut über die Zulassung von Lecanemab, dem dann ersten in Europa zugelassenen Antikörper gegen Alzheimer, entscheiden. Die DGN befürwortet eine Zulassung, auch wenn die Therapie nicht heilt, sondern lediglich das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt. Mit der Zulassung würden die Tabuisierung von Alzheimer und der Therapie-Nihilismus fallen. Gleichzeitig mahnt die Fachgesellschaft: Wird Lecanemab zugelassen, werden auch strukturelle Veränderungen notwendig, gerade im Bereich der Frühdiagnostik und Patientenversorgung.

Warum befürwortet die DGN die Zulassung von Lecanemab?

Prof. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN, führt aus: „Die Betroffenen warten dringend auf eine Therapieoption und für diejenigen, für die diese Behandlung infrage kommt, ist sie eine große Chance. Sie hemmt die Progression um etwa ein Drittel und es macht einen großen Unterschied, ob ich als Betroffener ein oder eineinhalb Jahre im Frühstadium der Erkrankung verbleibe, wie es die Zulassungsstudien gezeigt haben. Wir reden hier über ein geschenktes halbes Jahr bei noch guter Lebensqualität. Wir denken daher, dass man nach gemeinsamer Abwägung des individuellen Nutzen-Risiko-Profils Betroffenen den Zugang zu dieser Therapie nicht verwehren darf.“

Hinzu komme, dass diese Therapie bereits in den USA, UK und vielen anderen Ländern verfügbar ist. „Patientinnen und Patienten mit den nötigen finanziellen Mitteln lassen sich im Ausland behandeln oder sie beziehen die Medikamente über die internationale Apotheke und bekommen sie in Deutschland verabreicht. Das macht Gesundheit zu einer sozioökonomischen Frage, das können wir als Fachgesellschaft nicht gutheißen.“

Darüber hinaus sieht der DGN-Experte auch den Forschungsstandort Deutschland ausgebremst: Im Gegensatz zu den Ländern, die Alzheimer-Antikörper zugelassen haben, könnten in Deutschland keine Real-World-Daten erhoben und Erfahrungen gesammelt werden. Das benachteilige die deutsche Alzheimer-Forschung.

Berlit glaubt darüber hinaus, dass eine Zulassung von Amyloid-Antikörpern auch helfen würde, bestehende Tabus abzubauen. Warum? „Weil die neuen Therapien nur in den Frühstadien der Erkrankung wirksam sind. Das bedeutet, dass die Menschen medial und durch Aufklärungskampagnen für erste Krankheitsanzeichen sensibilisiert werden müssen, damit sie das Zeitfenster der Therapie nicht verpassen. Und in dem Moment, wo man über etwas redet, fallen Tabus.“ Auch Krebs war früher, vor 50 bis 60 Jahren, sehr stark tabuisiert. Erst die Arbeit der Deutschen Krebshilfe, das Darstellen von Therapiefortschritten in der Öffentlichkeit und das Schaffen von Früherkennungsmöglichkeiten habe die Erkrankung enttabuisiert. „Das müssen wir mit Demenzerkrankungen auch schaffen. Jedes Jahr erkranken in Deutschland 400.000 Menschen an einer Demenz – das sind fast so viele, wie an Krebs erkranken – und diese Menschen müssen nicht nur damit zurechtkommen, dass sie unter einer Krankheit mit infauster Prognose leiden, sondern auch damit, dass die Erkrankung stigmatisiert und verdrängt wird.“

Die Zulassung einer Therapie würde dazu führen, dass die Diagnose Alzheimer nicht länger dem diagnostischen Nihilismus zum Opfer falle, der jetzt oft noch herrsche. Ärztinnen und Ärzte nähmen erste Symptome eben nicht zum Anlass für eine weiterführende Diagnostik – einfach, weil kausale Therapien noch fehlen. „Kein Arzt würde hingegen Symptome einer bislang noch unheilbaren Krebskrankheit ignorieren und nicht weiter abklären, bloß weil es keine Chance auf Heilung gibt. Dieser Diagnose- und Therapie-Nihilismus zeigt eigentlich deutlich, wie stark Demenzerkrankungen auch in der Ärzteschaft noch mit Tabus belegt sind.“ Nun gebe es aber wahrscheinlich bald in Deutschland eine Therapie, die das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit um 30 % vermindert – das sei mehr, als viele Krebstherapien leisteten – und zu einem Umdenken führen wird. „Wenn nun Symptome wie Vergesslichkeit auffällig werden, hat man etwas in der Hand und sollte mit den Betroffenen Aufklärungsgespräche führen, sie über mögliche Diagnosen und Therapiemöglichkeiten informieren und dann fragen, ob sie eine weiterführende Diagnostik wünschen.“

Besonders wichtig sei dabei, dass mit dem Abbau der Tabus auch Präventionsmaßnahmen stärker wahrgenommen, kommuniziert und umgesetzt würden: Bislang sind 14 Risikofaktoren für Demenz bekannt, die prinzipiell modifizierbar sind und durch medizinische Vorsorge und gesunde Lebensgewohnheiten zum Teil persönlich beeinflusst werden können. Dazu gehören unter anderem Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes, Sehstörungen, Schwerhörigkeit, Fettstoffwechselstörungen und soziale Isolation. Bei Beseitigung aller 14 Risiken wären rund 45 Prozent aller Demenzerkrankungen vermeidbar – oder könnten zumindest deutlich hinausgezögert werden [1]. Und relevante Effekte seien auch noch im Stadium der leichten kognitiven Störung durch entsprechende Maßnahmen zu erwarten.

Welche strukturellen Änderungen erfordert die Zulassung von Lecanemab?

Prof. Peter Berlit führt aus, dass die Zulassung von Amyloid-Antikörpern auch Herausforderungen für das Gesundheitssystem mit sich bringe.

Die Frühdiagnostik müsse ausgebaut werden. Wohin wenden sich Betroffene mit einem Anfangsverdacht? Anhand welcher Tests wird entschieden, ob eine weiterführende Diagnostik auf Alzheimer erforderlich ist? Derzeit gibt es noch keinen zugelassenen Bluttest auf Alzheimer, der in der Breite angewendet werden könnte. Daher muss das mittels Lumbalpunktion gewonnene Nervenwasser auf bestimmte Biomarker, erniedrigtes Beta-Amyloid-42 oder erhöhtes Phospho-Tau 181, hin untersucht werden. Alternativ kann eine Bildgebungsuntersuchung, eine sog. Amyloid-Positronen-Emissions-Tomographie (Amyloid-PET), durchgeführt werden. Diese Untersuchung ist im Gegensatz zur Lumbalpunktion nicht invasiv, aber sehr aufwendig, mit Strahlenbelastung verbunden und steht nur in begrenztem Umfang zur Verfügung. „Es ist erforderlich, einen klugen Diagnosepfad zu definieren und zu implementieren, damit alle Betroffenen, die es wünschen, auch rechtzeitig eine gesicherte Diagnose erhalten und der Antikörper-Therapie zugeführt werden können. Dafür ist ein Ausbau der Kapazitäten für die Liquordiagnostik und die Amyloid-PET notwendig.“

Fachärztliche Kapazitäten und eine spezialisierte MR-Bildgebung seien auch erforderlich, damit dann nachfolgend die Infusionstherapie und ihre Überwachung sachgerecht erfolgen können. Das fange mit dem Ausbau von überwachten Infusionsplätzen an, gehe über die fachärztliche Beratung und Betreuung während des Krankheitsverlaufs bis hin zum Ausbau von Kapazitäten für erforderliche Begleitdiagnostik (spezielle MRT-Untersuchungen) und Begleittherapien (Kognitionstraining, Bewegungstherapie). „Die Diagnose Alzheimer erfordert auch eine psychologische Betreuung. Die Betroffenen müssen nach dieser lebensverändernden Diagnose aufgefangen werden. Bei Krebspatientinnen und -patienten hat sich mittlerweile eine psychoonkologische Beratung etabliert. Eine solche psychologische Begleitung muss auch Menschen mit Demenzerkrankungen zustehen.“ Hier müssten zügig entsprechende Strukturen geschaffen werden.

Können wir uns die Alzheimer-Antikörper leisten?

„Wir müssen sie uns leisten, wenn wir alle Patientinnen und Patienten gleich behandeln möchten. Wenn eine Therapie ein halbes Jahr Leben bei guter Qualität schenkt, können wir doch nicht sagen, der Mensch mit Krebs oder Herzinfarkt erhält sie, der mit Alzheimer aber nicht“, erklärt Prof. Berlit. Auch seien die eigentlichen Therapiekosten im Vergleich zu anderen modernen Antikörpertherapien z. B. gegen MS oder Krebs nicht teurer und die Alzheimer-Antikörper wiesen somit eine gute Effizienz auf [2].

„Um die Behandlung für das System stemmbar zu machen, ist allerdings eine gute Selektion der Patientinnen und Patienten erforderlich“, sagt der Experte. Bei Weitem nicht jede/jeder Betroffene komme für die Therapie infrage: Die Diagnose muss im Frühstadium gestellt worden sein und es muss eine Alzheimer-Pathologie vorliegen, denn bei anderen Demenzerkrankungen oder späten Stadien hilft die Behandlung nicht. Da die Antikörper im Gehirn zu Blutungen führen können, kommen Betroffene mit einer Blutungsproblematik, schlecht eingestelltem Bluthochdruck oder der Notwendigkeit einer Antikoagulation für diese Therapie (wahrscheinlich) nicht infrage. Auch sollte kein hohes Schlaganfallrisiko bestehen, da bei Menschen, die die Amyloid-Antikörper nehmen, im Bedarfsfall keine Schlaganfalltherapie mittels Thrombolyse durchgeführt werden kann. „Wir gehen davon aus, dass letztlich nur etwa 15–20 % der Betroffenen überhaupt für Lecanemab infrage kommen. Damit stellt sich auch die Kostenfrage anders dar als in anfänglichen Hochrechnungen [4]. Dennoch: Der Ausbau der Diagnostik und Versorgung wird kosten. Aber wenn die modernen Therapien die Krankheitsprogression um 30 % aufhalten und dies womöglich auch über einen längeren Zeitraum als die 18 Monate, die in den Studien getestet wurden, könnten diese Menschen entsprechend länger selbstständig leben. Und dies muss man volkswirtschaftlich gegen die Therapiekosten rechnen.“

[1] Livingston G, Huntley J, Liu KY et al. Dementia prevention, intervention, and care: 2024 report of the Lancet standing Commission. Lancet. 2024 Aug 10;404(10452):572-628. doi: 10.1016/S0140-6736(24)01296-0. Epub 2024 Jul 31. PMID: 39096926.
[2] Jicha GA, Abner EL, Coskun EP, Huffmyer MJ, Tucker TC, Nelson PT. Perspectives on the clinical use of anti-amyloid therapy for the treatment of Alzheimer’s disease: Insights from the fields of cancer, rheumatology, and neurology. Alzheimers Dement (N Y). 2024 Sep 18;10(3):e12500. doi: 10.1002/trc2.12500. PMID: 39296920; PMCID: PMC11409193.
[3] Jönsson L, Wimo A, Handels R, Johansson G, Boada M, Engelborghs S, Frölich L, Jessen F, Kehoe PG, Kramberger M, de Mendonςa A, Ousset PJ, Scarmeas N, Visser PJ, Waldemar G, Winblad B. The affordability of lecanemab, an amyloid-targeting therapy for Alzheimer’s disease: an EADC-EC viewpoint. Lancet Reg Health Eur. 2023 May 22;29:100657. doi: 10.1016/j.lanepe.2023.100657. PMID: 37251789; PMCID: PMC10220264.