Lurasidon, ein atypisches Neuroleptikum, kann bei Kindern und Jugendlichen mit Bipolarer Störung I Depressionen lindern
Original Titel:
Efficacy and Safety of Lurasidone in Children and Adolescents With Bipolar I Depression: A Double-Blind, Placebo-Controlled Study.
Wie früh kann eine Bipolare Störung oder Depression diagnostiziert werden, und wann ist es zu früh, ein Kind zu behandeln? Gerade bei den möglichen, schweren Nebenwirkungen der eingesetzten Medikamente sollte bei Kindern sorgfältig abgewogen werden, ob eine solche Diagnose verlässlich von unterschiedlichen Fachärzten abgesichert steht, oder ob Symptome noch als Verhaltensauffälligkeiten gelten können. Nicht jedes Kind, das beispielsweise nach Mobbing in der Schule in eine depressive Phase verfällt und in den Ferien plötzlich gelöst und lebhaft ist, ist krank. Nicht jeder zurückgezogene Jugendliche mit gelegentlichen Wutattacken hat ein Problem, das sich nicht auswachsen könnte.
Im Durchschnitt vergehen in Deutschland bis zur Diagnose einer Bipolaren Störung etwa 10 Jahre
In denen kann gerade auch bei jungen Menschen die Gehirnentwicklung Schaden nehmen, beispielsweise durch krankheitsbedingten Substanzmissbrauch wie Alkohol und Drogen. Falsche Diagnosen können auch zu Fehlbehandlungen mit entsprechend möglichen Schädigungen führen. Und das Suizidrisiko bipolarer Patienten ist ohne Behandlung drastisch erhöht. Die Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) schreibt in ihren Patienteninformationen, dass Patienten umso besser auf eine Therapie ansprechen je weniger Krankheitsphasen vor der Therapie lagen. So kritisch man gegenüber zu frühen Diagnosen psychischer Erkrankungen sein mag, so schwer wiegt doch eben die Verdachtsdiagnose der Bipolarerkrankung, die offensichtlich selten zu früh gestellt wird.
Gerade bei Kindern und Jugendlichen sollte also eine Diagnose schnell geklärt und eine verlässliche und möglichst nebenwirkungsarme Therapie eingeleitet werden. Prof. DelBello, Psychiaterin für Kinder und Jugendliche und Codirektorin der Forschungsabteilung für Bipolare Störungen an der Universität von Cincinnatti in den USA, untersuchte dazu mit ihren Kollegen die Wirksamkeit und Sicherheit des atypischen Neuroleptikum Lurasidon bei Kindern und Jugendlichen mit bipolarer Depression mit stark manischen Episoden.
Atypische Neuroleptika, als Gegensatz zu klassischen Psychopharmaka wie Haloperidol, galten ursprünglich als nebenwirkungsärmer.
Gerade die für Neuroleptika typischen parkinsonähnlichen Symptome (extrapyramidal-motorische Störungen, EPMS) treten bei Mitteln wie Lurasidon wohl seltener auf. Allerdings haben auch atypische Neuroleptika zum Teil schwerwiegende Nebenwirkungen. Das Mittel wurde in den USA 2010 zur Behandlung von Schizophrenie zugelassen, zur Behandlung depressiver Episoden erwachsener Bipolarer (Bipolar I) im Jahr 2013. In Europa ist es seit 2014 zugelassen. Lurasidon kann allein (in Monotherapie) oder in Kombination mit Stimmungsstabilisatoren wie Lithium oder Valproat eingesetzt werden.
Das Mittel ist vor allem deswegen interessant, weil nur wenige atypische Antipsychotika auch antidepressiv wirken. Antimanische Wirkung dagegen ist bei Lurasidon bisher noch nicht gezeigt worden. Auch in dieser Studie wurden keine Aussagen zu Manien gemacht.
Für die Studie wurden Patienten im Alter von 10 bis 17 Jahren mit einer Bipolar I Diagnose (nach den Kriterien der diagnostischen Leitlinie DSM-5) für 6 Wochen entweder mit Lurasidon oder Placebo behandelt. Welche Behandlung die Patienten erhielten wurde zufällig zugeteilt und war weder den Teilnehmern noch den behandelnden Ärzten bekannt (randomisierte Doppelblindstudie). Lurasidon wurde in unterschiedlichen Dosierungen gegeben (20–80 mg/Tag). Das wesentliche Wirkziel der Studie war eine Verbesserung der depressiven Symptome nach 6 Wochen im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Behandlung. Dies wurde mit Hilfe eines Interviewleitfaden zur Diagnostik und Schweregradmessung von Depressionen bei Kindern (children’s depression rating scale–revised, CDRS-R) ermittelt.
Verbessern sich depressive Symptome nach 6 Wochen mit Lurasidon?
Insgesamt nahmen 347 Patienten an der Studie teil. 175 erhielten mindestens einmal Lurasidon (mittleres Alter 14,2 Jahre; mittlere Dosis 33,6 mg/Tag), 172 erhielten Placebo (mittleres Alter 14,3 Jahre). Nach 6 Wochen hatten die mit Lurasidon behandelten Kinder und Jugendlichen deutlich weniger depressive Symptome als diejenigen, die Placebo erhalten hatten (CDRS-R-Wert -21,0 versus -15,3). Lurasidon verbesserte auch den klinischen Schweregrad der Bipolaren Störung (clinical global impression – bipolar-severity) und linderte Ängste. Auch die Lebensqualität und die gesamte Funktionalität der Patienten verbesserten sich. 92 % der Teilnehmer mit Lurasidoneinnahme führten die Studie bis zum Ende durch, mit Placebo waren es immerhin auch 89,7 %. Nur 1,7 % der Teilnehmer beider Gruppen brachen die Studie wegen Nebenwirkungen ab. Die häufigsten Nebenwirkungen von Lurasidon waren Übelkeit und Schläfrigkeit. Das Gewicht der Teilnehmer und Stoffwechselwerte wurden dagegen kaum von dem Mittel beeinträchtigt. In dieser placebokontrollierten Studie half das atypische Neuroleptikum Lurasidon mit Dosierung von 20–80 mg/Tag also gut gegen depressive Symptome bei Kindern und Heranwachsenden mit Bipolarer Depression. Das Mittel wurde gut vertragen und zeigte in dem Studienzeitraum nur minimale Effekte auf Gewicht und Stoffwechsel.
Bei sicherer Bipolar-Diagnose mit ausgeprägten manischen Phasen (Bipolar I) kurzfristig wirksam gegen Depressionen
Die Studie legt also nahe, dass bei sicherer Bipolar-Diagnose mit ausgeprägten manischen Phasen (Bipolar I) eine Behandlung allein mit Lurasidon Kindern und Jugendlichen gegen ihre Depressionen helfen kann. Diese Studie untersuchte die Auswirkungen des Medikaments allerdings nur für eine Dauer von 6 Wochen. Langfristige Effekte einer Behandlung gerade während der Entwicklung werden weiter untersucht werden müssen. Auch ist unklar, ob ein bei Manien möglicherweise nicht wirksames Mittel sinnvoll bei der Bipolaren Störung Typ 1 eingesetzt werden kannt. In Deutschland ist Lurasidon inzwischen nicht einmal mehr verkäuflich: im Zuge des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz AMNOG wurde überprüft, ob das Medikament im Vergleich zu anderen bereits erhältlichen Mitteln einen wesentlichen Zusatznutzen für die Patienten bringt. Dieser Zusatznutzen wurde hierbei im Vergleich zu anderen Neuroleptika nicht gesehen.
Viele Fragen bei der Problematik diagnostizierter Kinder. Wie sollen sie behandelt werden?
Wie nebenwirkungsarm und trotzdem wirksam kann ein heranwachsender Mensch therapiert werden? Kann generell ohne Phasenprophylaxe, also nur auf die Depressionen abzielend, therapiert werden, wenn doch bei klassischen Antidepressiva in Monotherapie immer wieder Manien ausgelöst werden? Vermutlich überwiegen zwar generell die Vorteile der Behandlung bei einer fachärztlich und mit Zweitmeinung diagnostizierten Bipolaren Störung. Die Therapiewahl ist jedoch eine sehr komplexe und auch individuelle Entscheidung, zu der das Wissen über verschiedene Optionen und deren Vor- und Nachteile beitragen kann.
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