Cannabis als Medizin

Mit dem am 10. März 2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften hat der Gesetzgeber die Möglichkeiten zur Verschreibung von Cannabisarzneimitteln erweitert. Prof. Dr. Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) ist erstaunt, dass das Gesetz keine Indikationsbereiche festgelegt hat. Dies ist aus seiner Sicht für Deutschland sehr ungewöhnlich, da man sonst in Gesetzen sehr detaillierte Vorgaben mache. Stöver sieht darin für Cannabispatientinnen und -patienten und deren behandelnde Ärztinnen und Ärzte große Vorteile, da deren Handlungsspielraum somit vergrößert wurde. Bis Deutschland zu einer Regelversorgung mit Cannabis gekommen ist, sei es aber noch ein weiter Weg. Während im Vorfeld des Gesetzeserlasses von rund 2.000 betroffenen Patientinnen und Patienten ausgegangen wurde, sind es mittlerweile vermutlich über 40.000 Betroffenen, die Cannabis als Medizinprodukt nutzen. Im zweiten Jahr nach der Gesetzesänderung hat die Zahl der Cannabisrezepte weiter deutlich zugelegt: Man kann daher heute von etwa 15.000 Patienten ausgehen, die eine Kostenerstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen erhalten. Weitere 15.000-30.000 Patienten erhalten vermutlich Privatrezepte mit oder ohne Kostenerstattung (Quelle: ACM-Mitteilungen vom 10. März 2019 unter https://www.cannabis-med.org/german/acm-mitteilungen/ww_de_db_cannabis_artikel.php?id=282).

„Cannabis ist in Deutschland leider noch kein Medikament wie jedes andere. Mit dem Cannabis als Medizin-Gesetz wurden jedoch sehr gute rechtliche Voraussetzungen geschaffen“, so Stöver. Deutschland stehe mit dem Gesetz bei diesem Thema weltweit an der Spitze – zumindest auf dem Papier sei die gesetzliche Neuregelung der Therapie mit Cannabis-Medikamenten beispiellos. Das Besondere an der gesetzlichen Regelung ist die Möglichkeit einer Verschreibung durch jede Ärztin/jeden Arzt in Deutschland in Kombination mit dem Anspruch auf  eine Kostenerstattung durch die Krankenkassen.

„In Deutschland könnten mehr als eine Millionen Menschen von einer Therapie mit Cannabis profitieren“, schätzt Stöver. „Ein zentrales Problem aber ist, dass in den meisten Fällen weder die Patientinnen und Patienten noch die Ärztinnen und Ärzte wissen, dass Cannabis als Medizin helfen könnte. Die Wissenslücke in der Ärzteschaft ist ein Flaschenhals beim Einsatz von Cannabis in Deutschland. Zahlreiche Ärztinnen und Ärzte lehnen eine Behandlung mit Cannabis ab, weil sie diesem skeptisch gegenüberstehen, verunsichert sind, Angst vor negativer Reputation haben oder die bürokratischen Hürden fürchten.“

„Erst wenn es für jeden, dem Cannabis helfen könnte, eine reale Therapieoption mit vielfältigen Cannabis-Medikamenten gibt, haben wir eine Normalität und hierdurch eine Regelversorgung erreicht“, betont Stöver. Der Weg von der Ausnahmemedizin in die Regelversorgung ist jedoch lang. Gegenwärtig wird die Versorgung mit Cannabis noch aus den Niederlanden und Kanada gedeckt. In den kommenden Jahren soll medizinisches Cannabis dann auch in Deutschland angebaut werden. Wann genau, steht noch in den Sternen. Das Gesetz sieht gemäß den Vorgaben des Einheits-Übereinkommens von 1961 über Suchtstoffe der Vereinten Nationen die Einrichtung einer staatlichen Stelle, der so genannten Cannabisagentur, vor. Diese wird den Anbau von Cannabis für medizinische Zwecke in Deutschland steuern und kontrollieren. Im April 2019 wurden erste Zuschläge für den Anbau und die Ernte von insgesamt 7200 kg Cannabis für vier Jahre erteilt.
„Durch das jahrzehntelange Verbot von Cannabis und dem Verbot damit zu forschen, ist viel Wissen um Cannabis als Medizin verloren gegangen. Es ist essentiell, dieses vergessene Wissen wieder in die Köpfe, in Hochschulen und Lehrbücher zu bringen“, plädiert Stöver. „Die Arzneipflanze Cannabis zeichnet sich durch ein weites Einsatzspektrum aus. Die zahlreichen unterschiedlichen Sorten Cannabis könnten eine ganze Apotheke füllen. Gerade für chronisch kranke Menschen, die über viele Jahre Medikamente einnehmen müssen, sind die vergleichsweise  geringen Nebenwirkungen von Cannabis ein Gewinn an Lebensqualität“, betont Stöver. „Cannabis ist vielseitig anwendbar. Die orale Einnahme und das Inhalieren sind nur die beiden gängigsten Anwendungsformen. Möglich sind diverse Rezepturen für die speziellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten von Zäpfchen über Tee bis zu Salben.“

Gemeinsam mit Maximilian Plenert, der selbst ADHS- und Cannabispatient ist und sich die Medikation auf dem Rechtsweg erstritten hat, hat Stöver „Cannabis als Medizin Praxisratgeber für Patienten, Ärzte und Angehörige“ verfasst. Der Ratgeber stellt die erste umfassende Publikation zu dieser Thematik im deutschsprachigen Raum dar. Neben einer Einführung zur Cannabispflanze und deren Wirkung gibt er Antworten auf rechtliche wie medizinische Fragen und zeigt auf, wie man eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse erreichen kann und welche Widerspruchsvorlage man verwenden sollte. Da die Cannabisblüte noch ohne Beipackzettel abgegeben wird, stellt das Werk diesen erstmals für Patientinnen und Patienten zur Verfügung.

Plenert, Maximilian; Stöver, Heino: Cannabis als Medizin Praxisratgeber für Patienten, Ärzte und Angehörige, Fachhochschulverlag Frankfurt am Main 2019, ISBN: 978-3-943787-90-0, 19 Euro (zuzüglich Portokosten)

Zur Person Stöver:
Prof. Dr. Heino Stöver ist Dipl.-Sozialwissenschaftler und Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS. Er leitet seit über zehn Jahren das Institut für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF). Stövers Forschungsschwerpunkte sind von großer gesellschaftlicher Bedeutung, da die Zielgruppen seiner Forschung gesundheitlich und teils sozial stark belastet sind und oft zu spät behandelt werden; die späte Behandlung verursacht hohe Kosten und kann zum Tod führen. In den letzten fünf Jahren hat Stöver mehr als 20 Forschungsprojekte für nationale und internationale Auftraggeber durchgeführt und dafür Dritt- und Forschungsfördermittel in Höhe von mehr als 2,5 Mio. Euro eingeworben. Zurzeit leitet er u.a. das Teilprojekt „Evaluation von Maßnahmen zur Schadensminimierung im Hinblick auf offene Drogenszenen“ im Rahmen des BMBF-Verbundvorhabens DRUSEC. Darüber hinaus ist er an mehreren EU-Verbundprojekten beteiligt. Stöver hat beispielsweise am Projekt „Central Asia Drug Action Programme“ mitgewirkt, bei dem eine Beratungs- und Behandlungsstruktur für Drogenkonsumierende in Zentralasien entwickelt wurde und das von der EU Kommission mit insgesamt 900.000 Euro gefördert wurde.

Zum Institut für Suchtforschung (ISFF):
Das Institut für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt UAS arbeitet seit 1997 an der Weiterentwicklung zielgruppenspezifischer und lebensweltnaher Prävention, Beratung und Behandlung von Suchterkrankungen. Es erforscht Sucht in ihren verschiedenen Erscheinungsformen sowie die mit Sucht in Zusammenhang stehenden Probleme und Aspekte. Das Institut fördert den Ausbau von interdisziplinären Beziehungen zu Kooperationspartnern auf nationaler und internationaler Ebene. Forschungsprozesse und -resultate finden in Lehre und Studium Berücksichtigung.

Weitere Informationen zum Institut für Suchtforschung unter: www.frankfurt-university.de/isff