„Pandemie bietet Chance auf neue Formen der Solidarität“
Warum wir ohne grenzüberschreitende Solidarität wie Erste-Klasse-Passagiere auf einem sinkenden Schiff sind, erklärt Monika Mokre, Politikwissenschaftlerin an der ÖAW, im Interview.
Social Distancing, zuhause bleiben und solidarisch handeln sind das Mittel der Stunde. Aber wie weit reicht die Solidarität in Zeiten von Corona? Hört sie bei der älteren Nachbarin auf oder gilt sie auch denjenigen, die in überfüllten Lagern an den EU-Außengrenzen festsitzen? Während zahlreiche Länder der Welt versuchen, sich abzuschotten und ihre Grenzen dicht zu machen, wird globale Solidarität zu einem raren Gut. Welche Chancen es dennoch auf ein solidarisches Miteinander gibt, erklärt Monika Mokre, Politikwissenschaftlerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Frau Mokre, in Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit verschiedenen Formen der Solidarität. Worum genau geht es bei dem Projekt „Solidarität als Übersetzung“?
Monika Mokre: Ich gehe bei diesem Projekt davon aus, dass Solidarität für Gesellschaften nötig ist, wir aber neue Formen der Solidarität brauchen. Diese neuen Formen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern müssen aus solidarischen Zusammenhängen, die uns vertraut sind, übersetzt werden. Insbesondere beschäftige ich mich dabei mit der christlichen Solidarität allgemeiner Menschenliebe, der sozialistischen Solidarität des gemeinsamen Kampfes und der nationalen Solidarität, die ja gerade sehr intensiv angerufen wird. All diese Konzepte geben uns Gedankenanregungen, aber sie reichen nicht aus, um Solidarität in zeitgenössischen, globalisierten Gesellschaften adäquat zu denken und zu praktizieren. Sie müssen übersetzt werden.
Die Corona-Krise zeigt die Notwendigkeit eines solidarischen Umgangs miteinander. Ist die Bereitschaft zur praktischen Solidarität in der Nachbarschaft gegenwärtig im Wachsen?
Monika Mokre: Ich sehe hier ein gemischtes Bild. Einerseits gibt es neue, spontane Solidaritäten, auch mit Fremden. Andererseits gibt es nicht nur die eigenartigen, teilweise gewalttätigen Konflikte, etwa um Toilettenpapier, sondern auch rassistische Übergriffe auf Menschen mit asiatischem Aussehen. Solidarität kostet Kraft. Derzeit fühlen sich viele Menschen überfordert. Solidarität und Gemeinsamkeit ohne persönliche Nähe zu erleben, ist besonders schwierig, wie Tomislav Medak in einem sehr berührenden Bericht aus Zagreb nach dem Erdbeben beschreibt.
Die Corona-Krise legt gleichzeitig die Schieflagen unserer Gesellschaft offen. Wer kann, macht Homeoffice, fährt mit dem Auto zum Waldspaziergang. Andere riskieren jeden Tag ihre Gesundheit, schlichten in Regalen und werden dafür noch schlecht bezahlt. Wie kann man hier Solidarität schaffen?
Mokre: Solidarität braucht einerseits ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, andererseits aber auch die Übersetzung dieses Gefühls in nachhaltige Strukturen. Bis zu einem gewissen Grad muss Solidarität zur Selbstverständlichkeit werden, so wie etwa über lange Zeit das Solidarsystem der Sozialversicherung eine Selbstverständlichkeit war, auch wenn es in letzter Zeit in Frage gestellt wurde.
Gegenwärtig sehen wir ein Gefühl der Solidarität, wenn Kund/innen sich im Supermarkt bedanken und Trinkgeld geben. Wichtig wäre aber, dass es hier zu einer Änderung der gesellschaftlichen Wertigkeiten kommt, die sich nicht nur in Geschenken, sondern in höheren Löhnen niederschlägt. Interessant ist auch, dass kaum erwähnt wird, dass die Pfleger/innen und Supermarktkassier/innen, die jetzt im Einsatz sind, überwiegend Migrant/innen oder Kinder von Migrant/innen sind. Wenn diese Wertschätzung auch nach der Krise so bleibt, dann bedeutet das, dass wir endlich davon ausgehen, dass alle, die hier leben, auch hier dazu gehören, unabhängig von ihrem Pass oder Geburtsort. Dann ist eine zentrale Übersetzung von Solidarität gelungen.
Apropos Solidarsystem. Erlebt der Sozialstaat eine Renaissance, weil die Corona-Krise offensichtlich macht, wie wichtig ein gut ausgebautes Gesundheitswesen ist?
Mokre: Dazu hat der Politikwissenschaftler Sandro Mezzadra einen interessanten Text geschrieben, in dem er ausführt, dass es zwei mögliche Szenarien nach der Krise gibt: Eine Besinnung auf das Gemeinsame, zu dem zentral der Sozialstaat gehört, oder die sozialdarwinistische Position, bei der die Stärksten überleben und die Gesellschaft auf die anderen verzichten kann. Mezzadra schreibt aus der italienischen Perspektive, also aus den Erfahrungen in einem Land, in dem es tatsächlich aufgrund des Kollapses des Gesundheitssystems zu unerträglichen Selektionsprozessen kommt, weil entschieden werden muss, wer ein Sauerstoffgerät bekommt und wer nicht – also wessen Leben gerettet wird.
Und wie wird das in Österreich übersetzt?
Mokre: Für Österreich vermute ich unterschiedliche und widersprüchliche Reaktionen auf die Krisenerfahrungen. Einerseits glaube ich nicht, dass es in nächster Zeit Angriffe auf das Gesundheitssystem geben wird, wie sie in der vorigen Regierung angedacht wurden. Andererseits vermute ich, dass im Sinne der Rettung der Betriebe und Unternehmen soziale Härten und hohe Arbeitslosigkeit als notwendig betrachtet werden. Das sind selbstverständlich keine naturgegebenen Vorgänge, sondern sie sind davon abhängig, welche Kämpfe erfolgreich geführt werden. Um hier auf das Konzept der Übersetzung zurückzukommen: Übersetzung wird notwendig, wenn wir auf Unverständliches stoßen. Gegenwärtig können wir die Auswirkungen dieser Situation noch in keiner Weise verstehen. Es wird also zum Versuch der Übersetzung dieser Erfahrungen in neue Strukturen kommen – und dabei wird es sich um einen langen und widersprüchlichen Übersetzungsprozess handeln.
Corona dominiert die Aufmerksamkeitsökonomie, während an den EU-Außengrenzen die Menschenrechte außer Kraft gesetzt wurden. Droht die ohnehin knappe Solidarität mit Geflüchteten nun gänzlich zu verschwinden?
Mokre: Die Solidarität mit Geflüchteten ist bereits lange vor Corona weitgehend verschwunden, zumindest aus dem Mainstreamdiskurs. Grenzschließungen gegen Geflüchtete wurden lange vor der Pandemie-Gefahr kaum hinterfragt, sondern als erfolgreiche Politik kommuniziert. Allerdings gab es tatsächlich einen größeren gesellschaftlichen Aufschrei, als die türkische Regierung Ende Februar/Anfang März die Grenze zur EU öffnete und der griechische Grenzschutz mit Unterstützung von Frontex und militärischen und Polizeieinheiten anderer Mitgliedstaaten, wie etwa auch Österreich, die Geflüchteten zurücktrieb. Es gab Tote und die Menschen waren über längere Zeit im Niemandsland zwischen den beiden Grenzen gefangen. Dass Griechenland Geflüchtete für den illegalen Grenzübertritt verurteilte und das Recht auf Asylbeantragung aussetzte, sind klare Verstöße gegen die Genfer Konvention. Proteste dagegen wurden aber durch die Corona-Pandemie verdrängt. Indessen gibt es erste Coronafälle im hoffnungslos überfüllten Zeltlager in Moria auf Lesbos. Übrigens: Auch im Lager für Geflüchtete in Traiskirchen gibt es erste Coronafälle – und derzeit keine Anzeichen dafür, dass die Menschen auf dezentrale Wohnungen verteilt werden, in denen Isolation möglich wäre.
Zwischen nationalstaatlicher Isolation und globaler Solidarität: Welche Chancen sehen Sie in Zeiten von Corona auf ein solidarisches Miteinander?
Mokre: Eigentlich wäre es der richtige Zeitpunkt für transnationale Solidarität. Denn: Die Pandemie hält sich nicht an Ländergrenzen. Aber die Staaten reagieren derzeit sehr national oder sogar nationalistisch. Das zeigt der Begriff „Team Österreich“ oder die Tatsache, dass nur österreichische Staatsbürger/innen ein Recht auf einen Rückholflug haben. Personen mit der „falschen“ Staatsbürgerschaft werden nur mitgenommen, wenn es noch freie Plätze gibt, auch wenn sie schon lange einen Aufenthaltstitel und Familie in Österreich haben.
Dennoch: Diese Pandemie bietet die Chance auf neue Formen der Solidarität, die sich durchaus auch aus einer Form des rationalen Egoismus entwickeln können. Weder nationale Abschottung noch die Abschottung der Reicheren vor den Ärmeren funktioniert. Wenn jede Begegnung zu Ansteckung führen kann, wird deutlich, wie eng das (Über-)Leben der Einzelnen von den Lebensbedingungen aller abhängig ist. Um den Titel eines neu erschienen Buches des Medienwissenschaftler Richard Lachmann zu paraphrasieren: Ohne grenzüberschreitende Solidarität sind wir Erste-Klasse-Passagiere auf einem sinkenden Schiff.
AUF EINEN BLICK
Monika Mokre ist Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin. Sie ist seit 1991 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ÖAW, seit 2009 am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW. Mokre hat Lehraufträge am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Universität für Musik und darstellende Kunst und an der Webster University Vienna. Ihr aktuelles Forschungsprojekt „Solidarität als Übersetzung“ läuft noch bis Ende 2020.