Unstatistik des Monats: Anti-Corona-Maßnahmen – Nicht nur auf Neuinfektionen schauen

Die Unstatistik des Monats Oktober befasst sich mit der Aussagefähigkeit der 7-Tage-Inzidenz. Die aktuelle Politik orientiert sich mit ihren Anti-Corona-Maßnahmen vor allem an dieser 7-Tage-Inzidenz, die die Entwicklung der Neuinfektionen abbildet. Maßnahmen wie Sperrstunden, Personengrenzen auf Veranstaltungen und Alkoholverbote hängen davon ab. Die 7-Tage-Inzidenz gibt die innerhalb der vergangenen sieben Tagen registrierten Neu-infektionen je 100.000 Einwohner an. Hat beispielsweise eine Stadt mit 250.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen insgesamt 50 Neuinfektionen verzeichnet, so beträgt die Sieben-Tages-Inzidenz 50*(100.000/250.000) = 20.

Eine hohe 7-Tage-Inzidenz zeigt an, dass sich viele Menschen mit dem Virus infiziert haben. Manche schließen daraus, dass mit etwas Zeitverzögerung das Gesundheitssystem überfordert sein wird und nicht alle Patienten behandelt werden können, was zahlreiche Todesfälle zur Folge haben kann. Alleine auf die 7-Tage-Inzidenz zu schauen, ermöglicht jedoch keinen Blick auf das Gesamtgeschehen. In dieser Unstatistik erklären wir, warum Neuinfektionen in Bezug zu anderen Zahlen gesetzt werden sollten und warum die Zahlen in der ersten Welle im März-April nicht mit jenen von heute vergleichbar sind.

Neuinfektionen ins Verhältnis zur Anzahl der Tests setzen

Je mehr Tests durchgeführt werden, desto mehr positive Ergebnisse kann man erwarten. Daher sagen die Neuinfektionszahlen für sich genommen wenig über die Situation aus. Ein Beispiel: In der 18. Kalenderwoche (Ende April) gab es 8.321 Neuinfektionen, in der 36. Kalenderwoche (Anfang September) etwa genauso viele. Die Situation ist jedoch nicht die gleiche, denn in der Septemberwoche wurden mehr als dreimal so viele Tests durchgeführt. Man kann die Situation besser beurteilen, wenn man die Anzahl der positiven Tests („Neuinfektionen“) durch die Anzahl der Tests teilt. Diese Positiv-Test-Rate war in der Aprilwoche 2,5 Prozent, in der Septemberwoche aber nur 0,8 Prozent. Wenn man nur auf die Neuinfektionen bzw. die 7-Tage-Inzidenz blickt, könnte man meinen, man hätte es mit der gleichen Situation zu tun. Tatsächlich ist aber der Anteil der Personen, die positiv testen, zwischen der 18. und der 36. Kalenderwoche deutlich zurückgegangen. Erst seit Ende September hat sich dies wieder umgekehrt, als der Anteil der positiven Tests stetig anstieg und in der 42. Kalenderwoche (Mitte Oktober) 3,6 Prozent erreichte. Man kann also die absolute Anzahl der Neuinfektionen und auch die 7-Tage-Inzidenz der ersten „Welle“ im März und April nicht mit der zweiten Welle vergleichen. Der Vergleich der Positiv-Test-Raten ist informativer.

Um die Veränderung des Anteils der positiven Tests selbst zu beurteilen, muss man zudem sehen, dass heute andere Personengruppen getestet werden als in der ersten Welle. Während im Frühjahr klare Symptome und Kontakt zu Infizierten Voraussetzungen für eine Testung waren, wurden im Sommer zunehmend Massentestungen gefährdeter Personengruppen (z.B. medizinisches Personal) und von Reiserückkehrern durchgeführt. Wenn man davon ausgeht, dass ausgeprägte Symptome mit einem schweren Krankheitsverlauf einhergehen, dass schwere Krankheitsverläufe bei älteren Menschen häufiger sind und dass umgekehrt Massentests eher an berufstätigen Personen im Alter von 18 bis 59 Jahren durchgeführt wurden, so ist leicht zu erklären, warum inzwischen deutlich mehr Fälle unter den jüngere Altersgruppen gefunden werden. Das Infektionsgeschehen mag sich etwas in diese Jahrgänge verschoben haben, oder es scheint zu gelingen, ältere Menschen effektiver zu schützen. Dies erkennt man daran, dass die absolute Zahl positiv Getesteter unter den 60- bis über 80-jährigen gesunken ist, während sie bei den Jüngeren ansteigt. Zugleich wird aber wiederum deutlich, dass die heutige Teststrategie die Dunkelziffer im Vergleich zum Frühjahr sehr viel besser erfasst.

Neuinfektionen ins Verhältnis zur Anzahl der Verstorbenen setzen

Obgleich die Anzahl der Neuinfektionen derzeit rapide ansteigt, ist das Verhältnis der Verstorbenen zu den zwei Wochen zuvor Infizierten deutlich gesunken. Unter den Erwachsenen bis 60 Jahre ist der Anteil der Verstorbenen an den zuvor positiv Getesteten um 90% zurückgegangen, unter den 60- bis 80-jährigen um 80% und unter den noch Älteren um 50%. Zwei Studien in den USA und Großbritannien berichten, dass der Anteil der Verstorbenen stark zurückgegangen ist und zwar gleichmäßig für alle Altersgruppen. Das legt nahe, dass der Rückgang nicht alleine mit der höheren Anzahl von jungen, infizierten Menschen zu erklären ist. Vielmehr mag dieser zum Teil auf verbesserte Behandlungen zurückzuführen sein; schließlich haben wir gelernt, dass beispielsweise die vorschnelle Beatmung von Corona-Patienten in zahlreichen Fällen wohl zum Tod geführt haben dürfte.

Nicht auf eine einzige Zahl blicken

Ein Wert von 50 Fällen je 100.000 Einwohner heute hat eine gänzlich andere Bedeutung als vor einem halben Jahr. Hinsichtlich der zu erwartenden Intensivpatienten und Todesfälle dürfte ein Wert von 50 im Oktober maximal einem Wert von 15 bis 20 im April entsprechen; vermutlich entspricht er einem noch geringeren. Der einzige Fall, in dem man rechtfertigen könnte, nur auf die 7-Tage-Inzidenz zu schauen, ist die Frage, ob die Gesundheitsämter die Zahl der Kontaktpersonen von Menschen mit positiven Tests noch nachverfolgen können. In allen anderen Fällen raten wir dringend, nicht alleine die Veränderung der 7-Tage-Inzidenz gegenüber der „ersten Welle“ zu betrachten, sondern zugleich die Veränderung der Positiv-Test-Raten und der Todesraten bzw. den Anteil an Corona-Patienten in Intensivstationen.

Originalpublikation:

https://www.rwi-essen.de/unstatistik/108/