Neue Ursache zur Entstehung von Leukämie entdeckt
Forscherinnen und Forschern des Universitätsklinikums Tübingen ist es gelungen, eine molekulare Ursache der Leukämieentstehung zu identifizieren. Damit haben sie ein neuartiges experimentelles Modell etabliert, das es Patientinnen und Patienten mit Leukämie in Zukunft ermöglicht, spezifischer behandelt zu werden. Die Forschungsergebnisse sind aktuell in der Fachzeitschrift Cell Stem Cell publiziert.
Schwere kongenitale Neutropenie (CN) ist ein prä-leukämisches Knochenmarkversagenssyndrom, das sich zu einer akuten myeloischen Leukämie (AML) entwickeln kann. Bei dieser seltenen angeborenen Erkrankung der Blutbildung handelt es sich um einen Immundefekt, der mit einer verminderten Anzahl an Granulozyten und funktionellen Defekten ebendieser einhergeht. Bereits früh nach der Geburt bilden sich bei Betroffenen schwere bakterielle Infektionen. Die einzig mögliche Therapie ist eine lebenslange Behandlung mit rekombinanten Wachstumsfaktoren (Proteinen), die täglich injiziert werden müssen. 20 Prozent der Patientinnen und Patienten mit angeborener Neutropenie erkranken bereits in den ersten Lebensjahrzehnten an Leukämie.
Den Forscherinnen und Forschern um Professorin Dr. Julia Skokowa, Dr. Benjamin Dannenmann und Dr. Maksim Klimiankou von der Abteilung Hämatologie, Onkologie, klinische Immunologie und Rheumatologie der Medizinischen Klinik des Uniklinikums Tübingen ist es nun gelungen, den Mechanismus der Leukämieentstehung aufzuschlüsseln und eine neue Therapie zu ergründen. Als Leiterin des Referenzlabors für Diagnostik und Forschung des internationalen Registers für schwere chronische Neutropenien (SCNIR) konnte Prof. Skokowa große Datenmengen von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen für ihr Forschungsvorhaben analysieren.
Da es für Neutropenie keine Tiermodelle gibt und es schwierig ist, genügend Knochenmarkzellen von Erkrankten zu gewinnen, erarbeiteten die Forscherinnen und Forscher ein neuartiges Versuchsmodell zur Untersuchung der Leukämie: Dabei versetzten sie die Blutzellen von Neutropenie-Patienten mithilfe molekularer Methoden zurück in einen frühen embryonalen Zustand – in sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen). In Zellkulturen generierten sie aus diesen Stammzellen wiederum blutbildende Zellen. Unter Verwendung einer neuen Methode, der Genschere (CRISPR/Cas9), stellten sie die bösartige Leukämiezelle her und fügten die Genmutation in die iPS-Zellen hinzu. So gelang es den Expertinnen und Experten, Leukämiezellen in Zellkulturen zu generieren, die den primären Leukämiezellen der Neutropenie-Patienten sehr ähnlich sind.
Weiter untersuchten die Forschenden die Effekte jener Gene, von denen in Leukämiezellen viel größere Mengen vorhanden sind, als in gesunden Zellen. Um diese Auswirkung auf das Leukämiewachstum zu erforschen, wurden die Gene in den im Labor erzeugten Stammzellen mittels der Genschere ausgeschaltet. Dabei entdeckte man, dass das Ausschalten eines einzigen Proteins – BAALC – zum Tod der Leukämiezellen führt. Durch Analysen der Aktivierung aller BAALC-abhängigen Gene konnten Prof. Skokowa und ihr Team den molekularen Mechanismus der Leukämieentwicklung entschlüsseln und einen niedermolekularen Inhibitor (CMPD1) mit therapeutischer Wirkung identifizieren. Dieses neuartige Medikament tötet die Leukämiezellen ab, ohne dabei die gesunden blutbildenden Zellen anzugreifen und kann dadurch zur Therapie von Leukämien in klinischen Studien eingesetzt werden.
Originalpublikation:
iPSC modeling of stage-specific leukemogenesis reveals BAALC as a key oncogene in severe congenital neutropenia; doi: https://doi.org/10.1016/j.stem.2021.03.023