Seltene Erkrankungen: Neue Strategien für mehr Tempo auf dem Weg zur frühzeitigen Diagnose
Das EU-Forschungsprojekt „Screen4Care“ setzt auf genetisches Neugeborenen-Screening und künstliche Intelligenz, um die Diagnose für Patient*innen mit seltenen Erkrankungen zu beschleunigen. Göttinger Wissenschaftler*innen der Universitätsmedizin Göttingen und des Max-Planck-Instituts für experimentelle Medizin initiativ an Konzeption und in der Forschung beteiligt.
Bis seltene Erkrankungen erkannt sind, dauert es oft lange Zeit. Die Diagnosestellung ist häufig langwierig und kompliziert. Für betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene bedeutet dies eine Vielzahl an Beratungen, Fehldiagnosen und unwirksamen Behandlungen.
Das europaweite, interdisziplinäre EU-Forschungsprojekt „Screen4Care“ hat sich das Ziel gesetzt, den Weg bis zur Diagnosestellung von seltenen Erkrankungen zu verkürzen. Mehr Tempo in die Diagnosestellung soll ein neuartiger Ansatz bringen: Genetisches Neugeborenen-Screening wird kombiniert mit fortschrittlichen Analysemethoden, wie künstlicher Intelligenz (KI) und bildgebenden Verfahren.
Göttinger Wissenschaftler*innen der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin (MPIem) waren initiativ an der Konzeption des Projekts beteiligt und arbeiten jetzt aktiv mit an den Zielen und der Umsetzung des innovativen Forschungsvorhabens. In dem internationalen öffentlich-privaten Konsortium kooperieren 35 Partnereinrichtungen (Universitäten, Institute Firmen und Organisationen), bestehend aus Expert*innen verschiedener Fachdisziplinen aus 14 verschiedenen Ländern aus Europa. Das Projekt ist am 1. Oktober 2021 gestartet und läuft über einen Zeitraum von fünf Jahren. Gefördert wird das Vorhaben mit 25 Millionen Euro von der Innovative Medicines Initiative (IMI 2 JU), einem gemeinsamen Unternehmen der Europäischen Union und der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA). Rund 1,27 Mio Euro fließen an Wissenschaftler*innen des Göttingen Campus.
Priv.-Doz. Dr. Jana Zschüntzsch, Klinik für Neurologie der UMG, und Prof. Dr. Frauke Alves, Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin und UMG, haben vor einem Jahr maßgeblich die Konzeption des Antrages für das Projekt „Screen4Care“ erarbeitet. Mit weiteren Wissenschaftler*innen der Universitätsmedizin Göttingen bringen sie nun ihre fachliche Kompetenz in das europäische Projekt „Screen4Care“ ein. Priv.-Doz. Dr. Jana Zschüntzsch ist Oberärztin und Leiterin der Neuromuskulären Ambulanz der Klinik für Neurologie sowie Sprecherin des neuromuskulären Zentrums der UMG. Sie leitet das „digitale“ Arbeitspaket zum Einsatz von Algorithmen, die auf maschinellem Lernen beruhen. Patient*innen im frühen Krankheitsstadium sollen so über elektronische Patientenakten schneller identifiziert werden können, damit ihnen auf ihrer Diagnosereise zeitnah geholfen werden kann. Dieser Ansatz unterstützt eine spätere symptombasierte Diagnose jenseits des Neugeborenenalters im Leben. In das digitale Arbeitspaket bringt Prof. Dr. Dagmar Krefting, Direktorin des Instituts für Medizinische Informatik, UMG, ebenfalls ihre Fachkenntnisse ein.
Ein weiterer Teil von „Screen4Care“ widmet sich der phänotypischen Charakterisierung von neuromuskulären Erkrankungen, mit dem Ziel, neue Biomarker zu identifizieren, die auf Parametern aus bildgebenden Verfahren basieren. Hier werden in der interdisziplinären Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Frauke Alves „Translationale Molekulare Bildgebung“ am MPI für experimentelle Medizin neue hochauflösende Bildgebungsstrategien, wie die Multiphotonen-Bildgebung, angewendet. Sie soll dreidimensional die veränderte Skelettmuskel-Mikroarchitektur in Biopsien darstellen. Die erhobenen Daten werden zur Verbesserung der digitalen Diagnosealgorithmen eingesetzt. Von der Arbeitsgruppe für Forschung an neuromuskulären Erkrankungen in der Klinik für Neurologie, UMG, wird unter der Leitung von Priv.-Doz. Dr. Jana Zschüntzsch die nicht-invasive Visualisierung von veränderten Muskeln bei Patient*innen mit neuromuskulären Erkrankungen realisiert. Dabei kommt die multispektrale optoakustische Tomographie als innovatives bildgebendes Verfahren zum Einsatz, die gepulstes Laserlicht im nahen und fernen Nah-Infrarot-Bereich verwendet, um akustische Signale zu erzeugen.
„Insgesamt ist das Projekt ein gelungenes Beispiel für eine enge Zusammenarbeit zwischen grundlagenorientierter Forschung am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin und der Universitätsmedizin Göttingen. Die Weiterentwicklung von innovativen bildgebenden Technologien in Verbindung mit Verfahren der künstlichen Intelligenz wird langfristig bei Patient*innen mit seltenen Erkrankungen zu einer verbesserten Diagnose und Therapieversorgung führen“, sagt Prof. Dr. Frauke Alves.
HINTERGRUNDINFORMATION: Seltene Erkrankungen
Mehr als 7.000 „seltene Erkrankungen“ sind bekannt. Insgesamt sind geschätzt 27 bis 36 Millionen Menschen in der Europäischen Union betroffen. Das bedeutet, dass jeder siebzehnte Mensch im Laufe seines Lebens betroffen sein wird. Seltene Erkrankungen sind oft schwere, multisystemische chronische Erkrankungen und für Patient*innen häufig mit dem Risiko dauerhafter Organschäden und Organverfall verbunden. Patient*innen stehen in der Regel vor einem beschwerlichen Weg zur richtigen Diagnose. Im Durchschnitt dauert er acht Jahre und bedeutet unzählige Arztkonsultationen, Fehldiagnosen und ineffektive Behandlungen. Lange Diagnosewege stellen eine große Belastung für Patient*innen, ihre Familien und die Gesellschaft dar. Sie behindern auch ein schnelles Eingreifen – wie geeignete Behandlungen oder die Aufnahme in klinische Studien – und die Stärkung der Patient*innen. Diese kann durch Strategien, wie Lebensstilanpassungen, Familienplanung, genetische Beratung und die Bewältigung der psychosozialen und/oder finanziellen Folgen der Erkrankung erreicht werden.
Weitere Information zum Projekt: www.screen4care.eu