Warum Mutationen im größten menschlichen Protein den Herzmuskel krankmachen
Forscher*innen aus Göttingen und Münster entdecken wichtige Pathomechanismen bei vererbbarer Herzerkrankung. Veröffentlicht in der Fachzeitschrift „Science Translational Medicine“.
(umg/mfm/sw) Titin ist das größte bekannte Protein des menschlichen Körpers und sorgt dafür, dass sich die Muskeln – und damit auch das Herz – elastisch bewegen. Veränderungen (Mutationen) im Titin-Gen (TTN) können diese Funktion beeinträchtigen. Sie sind damit eine häufige Ursache der dilatativen Kardiomyopathie, kurz DCM. Die Erkrankung des Herzmuskels führt zu einer schwachen Pumpfunktion des Herzens. Welche Pathomechanismen dahinter stecken, warum also TTN-Mutationen krankheitsauslösend sind, war bislang im Detail unklar.
Ein Team von Wissenschaftler*innen um Prof. Dr. Wolfgang Linke, Direktor des Instituts für Physiologie II der Universität Münster (WWU) sowie Gastprofessor und Leiter der Arbeitsgruppe „Kardiale Mechanotransduktion“ in der Klinik für Kardiologie und Pneumologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), hat nun wegweisende Erkenntnisse gewonnen. Die Forschungsergebnisse wurden im Rahmen des Göttinger Sonderforschungsbereiches (SFB 1002) „Modulatorische Einheiten bei Herzinsuffizienz“ gewonnen und im November 2021 in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine veröffentlicht.
Originalpublikation:Truncated titin proteins and titin haploinsufficiency are targets for functional recovery in human cardiomyopathy due to TTN mutations. Andrey Fomin; Anna Gärtner; Lukas Cyganek; Malte Tiburcy; Isabela Tuleta; Luisa Wellers; Lina Folsche; Anastasia J. Hobbach; Marion von Frieling-Salewsky; Andreas Unger; Anna Hucke; Franziska Koser; Astrid Kassner; Katharina Sielemann; Katrin Streckfuß-Bömeke; Gerd Hasenfuss; Alexander Goedel; Karl-Ludwig Laugwitz; Alessandra Moretti; Jan F. Gummert; Cristobal G. dos Remedios; Holger Reinecke; Ralph Knöll; Sebastiaan van Heesch; Norbert Hubner; Wolfram H. Zimmermann; Hendrik Milting; Wolfgang A. Linke. Science Translational Medicine, 3 Nov 2021, Vol 13, Issue 618. DOI: 10.1126/scitranslmed.abd3079
Link zur Studie: www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.abd3079
„Die Ursachen einer dilatativen Kardiomyopathie sind vielfältig, die häufigste ist allerdings ganz klar die TTN-Mutation“, sagt Projektleiter Wolfgang Linke, Seniorautor der Publikation. „Genau genommen geht es um Verkürzungen im Titin-Gen, sogenannte Trunkationen, kurz TTNtv.“ Die Verkürzung im Molekül betrifft allerdings nur eines der beiden TTN-Allele, die andere Variante des Gens ist gesund. Verkürzungen im Titin-Gen (TTNtv) sind seit etwa einem Jahrzehnt als Auslöser der DCM bekannt. Weshalb Patient*innen mit einem TTNtv-Allel an DCM erkranken, konnte das Team von Forscher*innen aus Göttingen und Münster nun beantworten.
Anhand von über 100 Herzgewebsproben entdeckte die Gruppe bislang unerkannte Pathomechanismen: In den Proben von TTNtv-DCM-Patient*innen fanden die Wissenschaftler*innen in den Herzmuskelzellen weniger normales Titin als bei DCM-Patient*innen ohne TTNtv oder bei herzgesunden Menschen. „Das gesunde Allel produziert zwar normales Titin, kann die Schwäche des verkürzten Allels aber nicht kompensieren“, sagt Dr. Andrey Fomin, Erstautor der Publikation und in der Göttinger Arbeitsgruppe von Professor Linke am Herzforschungszentrum Göttingen im Rahmen des Göttinger Sonderforschungsbereichs (SFB 1002) wissenschaftlich tätig. „Weniger Titin bedeutet weniger kontraktile, also zum Zusammenziehen fähige Einheiten. In der Folge ist die Kraftentwicklung vermindert und das Herz wird geschwächt“, so Fomin.
Außerdem beobachtete das Forscher*innen-Team erstmals, dass die Herzen von TTNtv-DCM-Patient*innen trunkierte, also verkürzte, Titin-Proteine enthalten. Manche Herzen enthielten sogar genauso viel verkürztes wie gesundes Titin-Protein. „Wir können nachweisen, dass die verkürzten Proteine den Herzmuskelzellen nichts mehr nützen, da sie nicht in die Sarkomere, die kleinsten kontraktilen Einheiten einer Muskelzelle, eingebaut werden“, sagt Linke. Stattdessen sammeln sich diese Proteine in intrazellulären Aggregaten, kleinen Partikeln innerhalb der Zellen. „Ähnlich wie bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer könnten diese verklumpten Proteine ‚giftig‘ sein“, vermutet Linke. Darüber hinaus fanden die Forscher*innen heraus: Die Herzmuskelzellen von TTNtv-DCM-Patient*innen haben ein Problem mit den intrazellulären Protein-Qualitätskontrollsystemen. Mutierte Proteine werden normalerweise möglichst schnell von Zellen durch intrazelluläre Abbausysteme beseitigt. Bei trunkierten Proteinen kommen diese Systeme jedoch durcheinander und können ihre Qualitätskontrolle nicht korrekt durchführen.
„Unsere Studie ist eine für das Feld wegweisende Arbeit“, sagt Professor Linke. Seine Forschungsgruppe konnte nicht nur den Pathomechanismen näher auf den Grund gehen. Anhand eines Modellsystems aus menschlichen Zellkulturen, das in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen aus dem Herzzentrum der UMG (Dr. Lukas Cyganek, Stammzelleinheit; Dr. Malte Tiburcy und Prof. Dr. Wolfram H. Zimmermann, Institut für Pharmakologie und Toxikologie; Prof. Dr. Katrin Streckfuß-Bömeke und Prof. Dr. Gerd Hasenfuß, Klinik für Kardiologie und Pneumologie) entwickelt wurde, machen sie auch Vorschläge für eine erfolgreiche Behandlung oder sogar Heilung der Krankheit. „Wir zeigen an Stammzell-abgeleiteten Herzmuskelzellkulturen, dass die Genschere CRISP/Cas9 die Mutation wieder reparieren kann. Beim Patienten müsste die Genschere an Ort und Stelle ansetzen, also genau an der Herzmuskelzelle. Das ist in dieser Form noch nicht möglich, aber wenn es möglich würde, könnte es die Patienten heilen“, sagt Prof. Dr. Wolfgang Linke. „Titin-Mutationen könnten über unterschiedliche Ausprägung der beschriebenen Mechanismen auch eine Erklärung dafür sein, weshalb Patient*innen mit z.B. Bluthochdruck unterschiedlich schwer an Herzmuskelschwäche erkranken“, so Prof. Dr. Gerd Hasenfuß, Direktor der Klinik für Kardiologie und Pneumologie der UMG und Sprecher des Sonderforschungsbereichs (SFB 1002) „Modulatorische Einheiten bei Herzinsuffizienz“.
Die Studie entstand in enger Zusammenarbeit von Institut für Physiologie II und Kardiologie der Uniklinik Münster mit dem Herz- und Diabeteszentrum Bad Oeynhausen und dem Herzzentrum der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). Prof. Dr. Wolfgang Linke hat eine Gastprofessur in der Klinik für Kardiologie und Pneumologie der UMG inne und ist als Wissenschaftler am Standort Göttingen des Deutschen Zentrum für Herz- und Kreislaufforschung (DZHK) tätig. Weitere Kollaborationspartner sind das Max-Delbrück-Zentrum Berlin und die Klinik und Poliklinik für Innere Medizin I: Kardiologie an der Technischen Universität München. Unterstützt wurde die Arbeit durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Sonderforschungsbereich 1002), zwei Förderlinien der Medizinischen Fakultät Münster (IZKF und MedK) und das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislaufforschung (DZHK).
HINTERGRUND: Dilatative Kardiomyopathie
Die dilatative Kardiomyopathie ist eine krankhafte Erweiterung des Herzmuskels, besonders der linken Herzkammer. Durch eine Strukurveränderung des Herzmuskels und die Durchsetzung desselben mit Narbengewebe vergrößert sich das Herz. Die Herzwände können sich weniger zusammenziehen und die Pumpfunktion wird eingeschränkt. Dies führt zum fortschreitenden Verlust der Auswurfleistung sowie der Füllung des Herzens und mindert die Leistungsfähigkeit. Die dilatative Kardiomyopathie ist die häufigste Herzmuskelerkrankung und betrifft bis zu 1:250 Personen. Die Krankheit ist bisher nicht heilbar. Die Ursachen für eine dilatative Kardiomyopathie können sehr vielfältig sein. Häufig tritt sie innerhalb der Familie mehrfach auf (vererbbare Form). Titinmutationen (Trunkationen) sind für 15 bis 25 Prozent aller DCM-Fälle verantwortlich. Behandelt wird die Krankheit überwiegend medikamentös. Bei Herzschwäche im Endstadium bleibt nur die Herztransplantation.